Mikroabenteuer, Naturbeobachtungen und Trekking für Leute mit Schlaubrille
20. August 2020

Deutschlands „giftige” Spinnen – eine Aufklärung

By In Creepy Crawlies, Deutschland, Mensch und Natur

„Ist die giftig?“

Was, schon wieder ein Spinnen-Artikel? Jawohl, denn es wird Zeit für etwas Aufklärung. Warum?  Kein Sommer ohne Löcher! Jedes Jahr im Sommer, wenn es draußen im Garten raschelt, zirpt und summt, füllen sich die sozialen Netzwerke mit Anfragen über achtbeinige Monster, die den Pfad des Menschen kreuzen. Aus sicherer Entfernung mit phobiegeschüttelter Hand geknippst, dürfen wir dann verwackelte Handyfotos so ziemlich aller denkbaren Spezies bewundern, stets begleitet von der bangen Frage: „Ist die giftig?“
Die Reaktionen auf solche Anfragen sind so vielfältig wie es die Menschen selber sind: Mal panisch-hyperventilierend („Kill it with fire!!!“), mal dreiviertelgebildet („Ammen-Dornfinger, SEHR gefährlich, unbedingt den Hund anleinen!“) , oder auch mal obskur-esoterisch („Ein in Teebaumöl getauchter Bergkristall, bei Vollmond im Garten vergraben, hält giftige Tiere vom Haus fern“).

Dabei ist die Frage, ob eine Spinne giftig ist, meist gar nicht das, was die Fragenden tatsächlich wissen wollen. Denn, oh Wunder: So gut wie ALLE Spinnen haben Gift (mit Ausnahme der völlig unbedeutenden Familie der Uloboridae, die aber für diesen Artikel irrelevant ist). Spinnen sind fragile Tierchen, die darauf angewiesen sind, Insekten zu töten, die oft mindestens genauso groß und eben auch wehrhaft sind. Zu diesem Zweck haben Spinnen im Laufe der Evolution Giftdrüsen entwickelt, sowie die beiden dazugehörigen Injektionsklauen, die Cheliceren.
Die Frage sollte also nicht lauten, ob und welche Spinnen giftig sind, sondern ob das Verhalten und das Gift der Spinne dazu geeignet ist, Menschen zu gefährden.

Dieser Artikel soll die  Frage „gibt es bei uns gefährliche Spinnen“ auf eine möglichst umfassende Weise beantworten. Nach dem Lesen wisst ihr also Bescheid und könnt im Prinzip euch das aufwändige Tippen zukünftiger Antworten auf Fragen reißerischer Art sparen und einfach gleich auf diesen Artikel verweisen. Doch zuerst einmal (für alle Leser mit geringer Aufmerksamkeitsspanne) die Kurzfassung  der Antwort:

Nein, es gibt in Deutschlands Wäldern und Wiesen keine für Menschen gefährlichen Spinnen. Punkt.

„Blödsinn, was ist mit dem Ammendornfinger?“ höre ich in Gedanken schon den ein- oder anderen erbosten Superschlauen rufen. Ja, was ist denn mit ihm?

Der Ammen-Dornfinger Cheiracanthium punctorium ist ein zerbrechliches Wesen von geringer Körpergröße: Männchen erreichen kaum 10 mm, Weibchen kaum 15 mm Körperlänge. Die Art kommt in offenen, naturbelassenen Biotopen vor und ernährt sich räuberisch und ohne Netzbau von nachtaktiver Insektenjagd. Tagsüber verstecken sie sich in kugelförmigen Wohn- und Brutgespinsten, die sie im hohen Gras anlegen. Der Dornfinger hat, wie viele einheimische Spinnenarten, einen einjährigen Lebens- und Fortpflanzungszyklus. Erwähnt werden sollte außerdem, dass C. punctorium eine sehr wärmeliebende Art ist und ihr deutsches Vorkommen bis vor wenigen Jahrzehnten hierzulande auf wenige warme Regionen beschränkt war. Nun, im Zuge des Klimawandels gelingt es ihr, das Verbreitungsgebiet zu erweitern. Seitdem Wissenschaftler dies publiziert haben, ist freilich die Hölle los: „Immigrantische Giftspinnen aus dem Süden gefährden (in dieser Prioritätenreihenfolge) unsere Hunde und Kinder!!!11!”

Dornfinger-Panik

Dornfingerpanik
Dornfingerpanik: Nur echt mit vielen Ausrufezeichen!!!!!

So weit, so unscheinbar. Doch landauf landab, gilt das Tierchen als „Deutschlands giftigste Spinne“ und genießt als Sommerlochfüller ein beachtliches Medienecho. Jedes Jahr aufs Neue wird berichtet, dass sich diese „Giftspinne” aufgrund des Klimawandels immer weiter ausbreitet (was stimmt) und man deshalb beim Spazierengehen in der Natur jetzt besonders aufpassen müsse (was wiederum Quatsch ist). Einige Blogartikel lassen sich sogar lang und breit darüber aus, wie man einen Biss verhindern kann und manchmal überschreitet der Medien-Hype auch die Grenze zu echten Fake-News, wie ein wundervolles Debunking durch mimikana.at gezeigt hat.
Doch selbst seriös wirkende Artikel und Internet-Kommentare über das Tier stecken oft voller Übertreibungen und Fallstricke. Einerseits wird aufgeklärt und (natürlich zurecht) darauf hingewiesen, dass Spinnen meist harmlos und fast immer nützlich sind. Doch beim Dornfinger wird aufgetrumpft: Da ist von schlimmen Schmerzen und starken Schwellungen die Rede, gerne auch mal vom „Kreislaufversagen“ und immer wieder liest man den Tipp, nach einem Bissunfall doch bitte das Tier einzufangen und mit zum Arzt zu nehmen, den man jetzt sicherheitshalber aufsuchen sollte. Dass dies alles größtenteils Panikmache ist, werde ich gleich näher ausführen. Wir beginnen unser Debunking jedoch mit einem anderen Fun-Fact, den vielleicht nicht alle Leser*innen kennen:

Der Dornfinger teilt sich seinen Thron.

Zuerst einmal möchte ich mit der Alleinstellungsposition des Dornfingers aufräumen, die da besagt, dass die Art die giftigste Spinne Deutschlands sei. Denn zumindest von der Wasserspinne Argyroneta aquatica wissen wir, dass sie über ein vergleichbar potentes Gift verfügt!
„Wie bitte? Wasserspinne? Was soll das denn sein?“
A. aquatica ist ein furchtbar seltener und heimlicher Achtbeiner, der sein Netz subaquatisch (!) in den Wasserpflanzen stiller Seen baut und in einer Art Taucherglocke lebt, die er regelmäßig durch Luftblasen auffüllt. Ja, das ist so faszinierend, wie es sich liest und wer mehr darüber erfahren möchte, sollte sich unbedingt diesen Artikel nebst Video des Naturkundemuseums in Karlsruhe anschauen!

Wasserspinne
Diese Total niedliche Wasserspinnen-Illustration aus Brehms Tierleben von 1984 möchte ich euch nicht vorenthalten!

Eine weitere Konkurrentin sind Steatoda paykulliana, auch als „Falsche Witwe“ bekannt, sowie ihre Cousine Steadota nobilis. Es handelt sich um Haubennetzspinnen der Gattung der Fettspinnen (Steatoda), die der Schwestergattung Latrodectes (der echten Witwen) sehr ähnlich sind. Beide Arten wandern seit einigen Jahren, wohl im Zuge des Klimawandels, vermehrt bei uns ein und werden außerdem, aufgrund ihrer Angewohnheit, ihre Netze mit Vorliebe in Menschennähe zu bauen, durch Reise- und Handelsverkehr eingeschleppt. Steadota-Arten stehen im Ruf, eine für den Menschen medizinisch relevante Giftwirkung zu zeigen; und zwar (wie beim Dornfinger auch) durch Rötungen der Bissstelle, Schmerzen und kurzzeitiges Unwohlsein.
Wissenschaftlich untersucht ist dies jedoch fast gar nicht, nur im Fall von S. nobilis gibt es ein paar einzelne belegte Fallberichte. Da diese Spinnen recht klein sind, dürfte es ihnen fast nie gelingen, mit einem Biss die menschliche Haut zu penetrieren und ihr Gift in den Blutkreislauf zu injizieren.

Nicht unerwähnt bleiben soll hier außerdem noch Zoropsis spinimana, ebenfalls eine eingewanderte Art aus dem Mittelmeerraum. Diese große Kreuseljagdspinne wird manchmal mit einer Tarantel verwechselt und hat ein ausgeprägtes Drohverhalten. Der Biss verläuft jedoch immer harmlos, selten nimmt er die Ausmaße eines Bienenstichs an.

Neben der Tatsache, dass die allermeisten Menschen niemals in ihrem Leben eine Wasserspinne sehen werden und ihnen eine Fettspinne so gut wie nie auffallen wird, dürfte einer der Hauptgründe für die Medienpräsenz des Dornfingers die vielen Fotos von Dornfingermännchen sein. Und zwar deshalb, weil deren auf Makroaufnahmen überdimensional groß wirkenden Chelizeren sie in ein ganz besonders schauerliches Licht rücken. Dazu kommt dann noch diese aggressiv wirkende rötliche Färbung. Solche Fotos sind bestens für reißerische Postings und Pressemeldungen geeignet, während sich die Wasserspinne aufgrund ihrer Lebensweise nur schwer fotografieren lässt. Und wenn, dann sieht sie mit ihrem klein wirkenden Körper und der schillernden Luftblase, welche ihr Abdomen umgibt, recht hübsch und unschuldig aus. Meine These lautet also: Der Dornfinger ist auch deshalb Deutschlands gefährlichste Medienspinne, weil er giftiger aussieht.

Der Dornfinger ist selten und Bisse sind extrem unwahrscheinlich.

C. punctorium steht in vielen Bundesländern auf der roten Liste bedrohter Arten und ist somit ein seltenes Tier. Die Spezies bewohnt naturbelassene, hohe Wiesen in den besonders warmen Regionen Deutschlands, z.B. dem Rhein-Maingebiet oder dem Berlin-Brandenburgischen Umland.

Mit etwas Recherche stellt man fest, dass es extrem schwer ist, überhaupt Leute zu finden, die nachweislich von einem Dornfinger gebissen wurden. Ein Großteil aller „Bisse“ entpuppen sich beim Arzt als Wespenstiche und echte Bissberichte sind selten. Dies liegt daran, dass für ein Bissereignis sehr viele Zufälle zusammenkommen müssen:

  1. Der seltene Dornfinger muss in der besagten Region überhaupt vorkommen.
  2. Der potenziell zu beissende Mensch muss in sein Habitat, eine sehr hohe Naturwiese, eindringen und dort auch wirklich, so es der Zufall will, der seltenen Spinne direkt begegnen. Da das Tier aber nachtaktiv ist, ist auch diese Wahrscheinlichkeit gering und eine Begegnung findet überhaupt nur statt, wenn das Ruhegespinst des Tieres zerstört wird.
  3. Der Mensch muss das Tier direkt berühren, es ängstigen und ihm Schmerzen zufügen.
  4. Das Tier muss einen „gefüllten“ Biss in die nackte Haut absetzen und bei diesm auch erfolgreich mit den Cheliceren durchdringen können.

Ja nun. Das sind ziemlich viele „Wenns“ auf einmal und eigentlich nur dann denkbar, wenn man ein unfähiger Arachnologe ist, dem ein sehr ungeschickten Fangversuch missglückt… oder wenn man wirklich zu den totalen Pechvögeln gehört, die sich mit ihrer Liebsten ein Bett im falschen Kornfeld gemacht haben.
Angesichts so vieler nötiger Zufallsverkettungen wundert es nicht, dass wissenschaftliche dokumentierte Bissunfälle extrem rar sind. Insgesamt bewegt sich die Anzahl belegter Bisse weltweit bei deutlich unter Hundert. In Südeuropa sind Bisse häufiger, z.B. spricht diese Studie von 2012 von acht dokumentierten Dornfinger-Bissen in Italien zwischen 1990 und 2011. In dieser Studie von 2013 kann man nachlesen, dass in der Schweiz in einem Beobachtungszeitraum von zwei Jahren überhaupt nur 14 Menschen von einer Spinne gebissen wurden, wobei sich die Fälle auf fünf Arten verteilen und der Dornfinger einen sehr niedrigen Score hat.

Dornfinger-Habitat
Birte in Verbeitungsgebiet und Habitat von Cheiracanthium punctorium (Elster-Luppe-Aue bei Halle). Die Chance, dass sie einen findet (oder er sie) sind gering. (Foto: Torsten Schneyer)

Nun dürft ihr raten, wie viele klar belegte Bissunfälle der Wissenschaft aus Deutschland bekannt sind? Richtig, die Zahl beträgt Null. Es gibt keinen einzigen dokumentierten Biss durch C. punctorium bei uns. Ich habe lange in der zugänglichen Fachliteratur gesucht und keinen gefunden. Das heißt natürlich nicht, dass in Deutschland noch nie jemand vom Dornfinger gebissen wurde, zeigt aber doch, wie selten so etwas vorkommen muss… trotz des Medienhypes.

Das Gift des Dornfingers ist potent, aber dennoch nicht bedrohlich.

Gut, wir haben nun also alle akzeptiert, dass die Chance, von dieser Spinne gebissen zu werden ungefähr genauso hoch wie ein Lottogewinn ist. Aber nur mal angenommen, es passiert eben doch: Wie giftig ist er denn nun, der Dornfinger?
Das Gift vom Dornfinger ist keine harmlose Substanz. Wer sich für die biochemischen Details interessiert, kann sich diese Facharbeit mit dem vielversprechenden Titel „Novel Class of Spider Toxin” durchlesen. Das isolierte Wirk-Toxin hört auf die leicht zu merkende Abkürzung CpTx 1, wirkt cytotoxisch (Zellschädigend, indem es Zellmembranen schädigt und führt zur Depolarisation von Muskelfasern, was bei kleinen Tieren wahrscheinlich zu starken Muskelkrämpfen führen würde.

Häufige und typische Symptome beim Menschen sind:

  • Schmerzen an der Bissstelle über mehrere Stunden
  • Hautrötungen
  • Lokale Lymphknotenschwellung

Weniger häufig bis selten treten auf:

  • Übelkeit und Erbrechen
  • Kopfschmerz
  • Hypothermie (Fieberartige Körpererwärmung)
  • Schüttelfrost
  • Gewebenekrosen an der Bissstelle. Dieser Punkt ist sehr umstritten! Diese Studie von Richard S. Vetter hat 20 Bisse aus den USA und Australien untersucht sowie die Fachliteratur nach fundierten Berichten durchstöbert. Ergebnis: Es konnten keine haltbaren Fälle von Nekrosen nach einem Dornfingerbiss nachgewiesen werden. Der einzige Bericht darüber stammt aus den 60er Jahren. Eventuell haben wir es hier mit einem typischen Fall von Fehlinformation zu tun, die sich deshalb hält, weil sie alle bloß voneinander abgeschrieben haben.

Ein wissenschaftlich untersuchter Fall aus Italien, bei der ein Vater und sein Sohn gemeinsam gebissen wurden, zeigte beim erwachsenen Mann die leichten Symptome der ersten Kategorie (er konnte das Krankenhaus nach wenigen Stunden wieder verlassen) und beim Kind die ernsteren Symptome der zweiten Aufzählung. Der Junge durfte aber ebenfalls nach zwei Tagen der Beobachtung nach Hause gehen und war danach vollkommen wohlauf. Auf Kinder wirkt das Gift stärker (wohl einfach aufgrund der geringeren Körpermasse), scheint aber dennoch keine ernste Bedrohung darzustellen. Man kann bei sehr alten und kranken Menschen eine ähnliche Wirkung vermuten, hat hierzu jedoch keinerlei Datenbasis, weil es keine bekannten Vorfälle gibt. Es scheint so zu sein, dass das Gift von Cheiracanthium punctorium für den Menschen zwar unangenehm ist, jedoch keine Gefahr darstellt. Man kennt keinen einzigen Fall mit bleibenden Schäden oder auch nur schweren Krankenhausaufenthalten, Todesfälle sowieso nicht, auch nicht bei Kindern.

Zusammenfassend lässt sich zur medizinischen Relevanz sagen: Der Biss einer Dornfingerspinne hat für die allermeisten Menschen einen harmlosen Verlauf, der sich mit einem etwas heftiger ablaufenden Wespenstich vergleichen lässt.

Sollten Allergiker*innen besonders auf der Hut sein?

Immer wieder liest man, dass Menschen mit einer bekannten Allergie gegen Bienen- und Wespenstiche vom Dornfinger besonders gefährdet seien. Sehen wir mal davon ab, dass sich Bienenallergiker*innen vielleicht sowieso besser von hochsommerlichen Blumenwiesen fernhalten sollten, gibt es aber für eine Kreuzallergie zu Spinnengiften keinen gesicherten wissenschaftlichen Hinweis. Warum auch? Die Gifte sind ganz unterschiedlich aufgebaut, bestehen aus anderen Eiweißketten und haben eine andere Funktionsweise. Genauso wenig wie Erdnussallergiker*innen sich von Trauben fernhalten sollten, weil beides rund und knubbelig ist, sollten sich Wespenallergiker*innen vor Spinnen fürchten, nur weil sowohl Wespen als auch Spinnen jeweils mehr als zwei Beine haben. Es gibt unter manchen Ärzten die Meinung, dass Menschen mit einer Insektenstichallergie sogenannte „Atopiker“, also Menschen mit besonders reizbarem Immunsystem sind und deshalb auch bei Spinnen besonders aufpassen sollten. Evidenzbasiert sind solche Aussagen jedoch nicht! Die Zahl von Menschen, die explizit auf Spinnengifte, oder gar das des Dornfingers, allergisch reagieren, ist wiederum überhaupt nicht bekannt, da es ja so selten zu Bissunfällen kommt.

Fazit: Kein normaler Mensch weiß, ob er tatsächlich eine Allergie gegen Spinnengifte hat und Menschen mit einer Insektenstichallergie sind nicht zwangsweise gefährdeter durch Spinnen. Es schadet freilich trotzdem nichts ein wenig aufzupassen… doch dürfte das angesichts des faktisch nicht vorhandenen Biss-Risikos nicht wirklich etwas an der Situation ändern.

„Ich habe einen Dornfinger gesehen, so selten sind sie gar nicht!“

Die theoretische Möglichkeit mag zwar bestehen, aber in den allermeisten Fällen kann man antworten: „Nein, hast du wahrscheinlich nicht, Bettina!“

Nicht nur ist Mr. Dornfinger nachtaktiv und sehr selten, er hat auch noch einen Doppelgänger, mit dem er gerne verwechselt wird: Der große Asseljäger Dysdera crocata sieht dem Dornfinger recht ähnlich, zumindest wenn man ein arachnologischer Laie ist. Insbesondere die orangerote Färbung von Carapax und Beinen sowie die großen Chelizeren können Wander*innen und Gärtner*innen schnell in die Irre führen.


Wissen statt raten!

Wer sich bei seinen Wanderungen näher mit der Bestimmung von Spinnen befassen will, kann sich ein kompaktes Bestimmungsbuch zulegen. Die naheliegende Wahl ist -seit Jahrzehnten, ich bin damit groß geworden- der Kosmos Spinnenführer. Er beschreibt über 400 europäische Arten und es gibt ihn auch als Kidle E-Book fürs Handy.


 

Vorschub leistet der Verwechslung auch die Tatsache, dass der Asseljäger, im Gegensatz zum Dornfinger, die Nähe menschlicher Behausungen schätzt und wir ihm eventuell auch mal Im Haus begegnen. Gerne nisten sie sich in Gewächshäusern und Kellern ein. Und wer im Sommer an einer schattigen Stelle große Steine umdreht, hat gute Chancen, Asseljäger zu finden. Neben dem Fundort gibt es aber, kennt man sich ein bisschen aus und informiert sich im Vorfeld, noch andere Unterscheidungsmöglichkeiten für den „ersten Blick“: Das Abdomen des Dornfingers ist heller (beim Männchen gelblich) und zeigt einen leicht dunkleren Längsstreifen. Das Abdomen des Asseljägers ist graubraun und zeigt eine längliche Einbuchtung. Außerdem wirkt der Asseljäger im direkten Vergleich deutlich kompakter und sein Körper sieht walzenförmiger aus. Doch so genau schauen leider die wenigsten hin und in den allermeisten Fällen, in denen mal wieder jemand eine Dornfingerspinne fotografiert, handelt es tatsächlich um Dysdera crocata. Zum Besseren Verständnis habe ich den folgenden Vergleich gelayoutet:

Dornfinger und Asseljäger, Vergleich
Für Manche zum Verwechseln ähnlich: Links Ammen-Dornfinger Cheiracanthium punctorium (unten: Männchen), rechts Asseljäger Dysdera crocata,

„Und wenn ich doch mal gebissen werde?”

Cool bleiben und sichergehen, dass du überhaupt von einer Spinne gebissen worden und nicht in eine Brennnessel gelatscht oder auf eine Wespe getreten bist. Spinnenbisse zeigen zwei winzige Einstichstellen direkt nebeneinander; und auch in diesem Fall können das immer noch Mückenstiche oder Bettwanzenbisse sein, weil diese Tiere ganz gerne mal eine „Testbohrung” durchführen, bevor sie sich bedienen.
Als nächstes solltest du kritisch untersuchen, ob es sich bei der verdächtigen Spinne tatsächlich um C. punctorium handelt. Asseljäger oder auch ganz gewöhnliche Hausspinnen der Gattung Eratigena sind viel häufiger und auch sie können einen Menschen zwicken, wenn man sie ärgert. Mittelmeer-Urlauber begegnen z.B. in Kroatien eventuell der großen Fischerspinne Segestria florentina, die ein durchaus wehrhaftes Temperament hat und selten mal einen Urlauber beißt, wenn er sich achtlos auf eine alte Steinmauer hockt. Kleiner Einschub: Aufgrund von Selbstversuchen kann ich übrigens berichten, dass sowohl der Biss von Eratigena als auch der von Segestria einen etwa zehnminütigen lokalen Schmerz sowie ein prickelndes Taubheitsgefühl um die Bissstelle herum verursacht.
Ist man sich auch nach eingehender Prüfung immer noch sicher, einem Dornfinger als Übeltäter zu identifiziert zu haben, kann man, wenn das Bissopfer zu einer Risikogrupppe gehört (kleine Kinder, alte oder chronisch kranke Menschen), das Tier sammeln oder fotografieren (aber bitte nicht nochmal beißen lassen) und mit zu einem Arzt nehmen. Muss man aber in den allermeisten Fällen nicht, denn sehr wahrscheinlich tut der Arzt: Gar nichts. Außer eventuell die Bissstelle sicherheitshalber zu desinfizieren und Fenistil drauf zu schmieren. Nach einigen Stunden sollte das Abenteuer überstanden sein.

Für den extrem seltenen Fall, dass ernsthafte systemische Symptome wie Übelkeit, Erbrechen und Schüttelfrost auftauchen oder sich der Biss entzündet und nicht abheilen will, sollte man die Sache jedoch nicht auf die leichte Schulter nehmen und die gebissene Person am besten direkt zur Sicherheit in ein Krankenhaus bringen, wo sie bis zum Abklingen der Symptome überwacht werden kann.

Keine Angst vorm Dornfingerchen

Wie wir nun gelernt haben, ist das besorgte Medienecho um Cheiracanthium punctorium genauso übertrieben wie die schlauen Ratschläge in den sozialen Netzwerken unnötig sind, Denn:

Der Dornfinger stellt, obgleich nicht ungiftig, keine Gefahr für den Menschen dar!

Solltet ihr also über entsprechende Panik-Meldungen stolpern, dann verlinkt ruhig diesen Artikel. Und wenn ihr tatsächlich doch mal einen seht (ich selbst habe bereits verlassene Wohngespinnste bei Leipzig gesichtet): Foto machen und freuen! Zum Abschluss dieser Belehrungen noch ein paar Dinge, die gefährlicher sind als Dornfingerspinnen:

  • Pferde! Über 30.000 Verletzte gibt es jährlich im deutschen Reitsport und Todesfälle passieren regelmäßig. Die Schuld liegt hierbei selten bei den Pferden…
    Wespen, Bienen und Hornissen (Durchschnittlich 16 Todesfälle im Jahr).
  • Hunde (Durchschnittlich 3 Todesfälle im Jahr).
  • Rinder (Durchschnittlich 20 Todesfälle im Jahr).
  • Vom Blitz getroffen werden (Durchschnittlich 8 Todesfälle im Jahr).
  • Sich mit selbstgebastelten Feuerwerkskörpern in die Luft sprengen (Durchschnittlich 0,013 Todesfälle im Jahr).
  • Tod durch Selfie (259 weltweite Fälle zwischen 2011 und 2017). Mit einem gemeldeten Fall aus Deutschland immer noch gefährlicher als… ein Ammen-Dornfinger. 😉

Bildquellen:

Cheiracanthium punctorium: Rainer Altenkamp, Wikipedia, Lizenz 

Dysdera crocata: Michel Vuijlsteke, Wikipedia, Lizenz 

Zeichnung Wasserspinne: Alfred Brehm (1829–1884) – Brehms Thierleben. Allgemeine Kunde des Thierreichs, Neunter Band, Vierte Abtheilung: Wirbellose Thiere, Erster Band: Die Insekten, Tausendfüßler und Spinnen. Leipzig: Verlag des Bibliographischen Instituts, 1884., S. 664-666

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