Mikroabenteuer, Naturbeobachtungen und Trekking für Leute mit Schlaubrille
9. Dezember 2021

Kreaturen aus Feuer und Sand – naturrealistische Glaskunst aus Venedig

By In Kunst und Wissenschaft, Mensch und Natur, Museen und Bildung, Venedig

Geheimnisvolle Lagunenstadt Venedig. Ich schlendere durch seine dämmrigen Gassen, erklimme zum unzähligen Male eine der tausend kleinen Treppen, überquere einen Kanal und tauche ein in die nächste schmale Lücke zwischen den alten Gebäuden dieser seltsamen und labyrinthischen Stadt. Die Souvenirläden liegen schon länger hinter mir. Nun sind es vermehrt Backwaren-Shops, Papeterien und blind gewordene Schaufenster mit Haushaltswaren, die die Ladenzeilen dominieren. Dazwischen plakatierte, beklebte und getaggte Hauswände – auch in Venedig gibt es Subkultur und eine politisch alternative Szene – die Stadt lebt. An einem Ort mit einer derart langen Geschichte, einer in dem Jahrhundertelang Geld transferiert und Luxus gelebt wurde, bewegt sich alles, auch der Mikrokosmos in den hinteren Ecken der Stadtviertel, da wo die Menschen leben, die hier auch geboren wurden. Und hier entsteht, oft verborgen und äußerst introvertiert, Großartiges, das erst gefunden werden muss.

 

Eine Entdeckung

Vor solch Großartigem, einem echten Wunder, finde ich mich nun wieder. Dieses eine Schaufenster, in dessen Scheibe ich mich jetzt spiegele und an die ich sehr nah herantreten muss um überhaupt zu begreifen, was ich dahinter entdeckt habe, lässt mich alles um mich herum vergessen: Fühler, Tentakel, filigrane Gliedmaßen, Flügel, Flossen, winzige Krallen, durchscheinend, zerbrechlich… ist das echt? Oder ist das, was ich sehe, einfach unfassbar realistisch?

 

Tatsächlich entfaltet sich vor mir ein Kosmos aus künstlerischer Geduld, Liebe zum Detail und purer Schönheit. Ich halte den Atem an. Wie in aller Welt ist alles, was ich da staunend betrachte, in die Auslage gekommen, ohne in tausend winzige Splitter zu zerspringen? Als meine Hand sich auf die Klinke der Ladentüre legt, weiß ich dass ich nun ein Reich betreten werde, in welchem das Kunsthandwerk und naturbegeisterte Beobachtungsgabe eine erstaunliche Symbiose eingehen.

Wenn die Kunst Wissen schafft…

Ein Vorurteil besagt, dass Kunst und Naturwissenschaft einander nicht verstünden. Die Erforschung unserer Welt, das Ansammeln von Wissen über alles was um und mit uns lebt, beginnt jedoch mit der Begeisterung angesichts ihrer Ästhetik und Kuriosität. Oft begründen Wissenschaftler:innen ihre Entscheidung, einen Berufsweg in die Naturwissenschaften einzuschlagen, mit ihrem kindlichen Staunen von klein an. Das Sammeln von Pflanzen, Mineralien, Insekten, das Anlegen in Herbarien und Schaukästen, das Beobachten von Vögeln und Säugetieren, welches unweigerlich zur Fotografie und Illustration überleitet – überall reichen Kunst und Wissenschaft einander die Hand, schaffen Möglichkeiten und erweitern die Spielräume. Die barocken Kuriositätenkammern des 18. Jahrhunderts, halb aus Neugierde, halb als Statussymbol angelegt, waren Kunstwerke in sich und boten gleichzeitig gelehrten Menschen die seltene Chance, an Objekten forschen zu können, an die sonst schwer zu gelangen gewesen wäre. Naturbegeisterte Künstler:innen, die an der T-Kreuzung ihres Lebens nicht in die Wissenschaft abgebogen sind, schufen und schaffen Kreationen, die zum einen Laien für die Natur begeistern können, die aber auch in Zusammenarbeit mit der Wissenschaft Wege der Bionik beschreiten, ergonomische Funktionen veranschaulichen oder Zusammenhänge visualisieren können. Wer kennt sie nicht, die Farbtafeln Haeckels, die im 20ten Jahrhundert der Kunstgeschichte im Kapitel Jugendstil einen weitere Absatz beifügten, die aber auch eine nicht allein ästhetische, sondern gleichermaßen inhaltliche Übersicht zu taxonomischen Gruppen ihrer Zeit boten?

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Detail einer Haeckel-Tafel: Nr. 17, Porpema, Siphonophorae (Staatsquallen) (Quelle: zeno.org)

Nun stehe ich im Inneren des kleinen Ladens, sehe mich um und werde sogleich an einen anderen Besuch erinnert. Dieser fand in Leipzig statt, und zwar in der Zoologischen Lehr- und Studiensammlung. Hier sah ich zum ersten mal live die Werke der Blaschkas, zwei böhmische Glaskünstler (Vater Leopold *1822 †1895 und Sohn Rudolf *1857 †1939), die im Laufe ihres Schaffens tausende filigraner Glasobjekte für Zoologie und Botanik gefertigt haben – Werke, die heute in naturwissenschaftlichen Museen der ganzen Welt zu bestaunen sind und die einem angesichts ihrer Kunstfertigkeit und Ästhetik den Atem rauben. Damals bewunderte ich die Polypen verschiedener Hydrozoen und siehe da, auch hier in Venedig entdecke ich, obwohl es im Laden im großen Maße entomologisch, ichtyologisch und ornithologisch einher geht, einen Vertreter dieser Gattung, den Blauen Knopf (Porpita porpita)

„Blauer Knopf” (Porpita porpita). Links: Lebendtier (Quelle Wikipedia, Bruce Moravchik, NOAA), rechts: Glasmodell von Vittorio Costantini (Foto: © Birte Sedat, 2020).

 

Mag sein, dass sich in den Auslagen Objekte finden, die das Laienauge leichter zu begeistern wissen. Immerhin sind farbenprächtige Miniaturvögel, an denen sogar einzelne Federn dargestellt sind, oder unfassbar winzige Stubenfliegen, alles aus feinstem Glas, auf den ersten Blick gefälliger als jener recht seltsam anmutende Vertreter der Nesseltiere. Aber dieses Objekt zeigt mir: Hier ist jemand am Werk, der nicht unbedingt verkaufen will. Hier ist jemand, der genau hinschaut und ganz offensichtlich begeistert ist von der Vielfalt des Lebens in all seinen Ausprägungen. Diesen Menschen möchte ich unbedingt kennenlernen. Ich möchte wissen, was ihn inspiriert, was ihn treibt und was für eine Persönlichkeit hinter all diesen Kunstwerken steckt. Und ich habe tatsächlich das Glück und die Ehre mich mit Vittorio Costantini und seiner Frau Graziella auf ein Gespräch verabreden zu können.

Vittorio Costantini arbeitet perfekt bis ins kleinste Detail: hier eine nur wenige Millimeter große Stubenfliege (Musca domestica). (Foto: © Birte Sedat, 2020)

Die Menschen hinter den gläsernen Wundern

Graziella und Vittorio Costantini empfangen mich mit viel Wärme und Offenheit. Er ist der Künstler mit dem Kopf in den Wolken und lächelt viel. Sie lacht ebenfalls gerne und steht dabei mit beiden Füßen fest auf dem Boden – ein Boden, der sicher schon das eine oder andere „Acqua alta“ gesehen hat. Mit Graziellas Hilfe können wir auch die Sprachbarriere überwinden, indem wir zwischen Italien und Deutschland einen Umweg über das Englische machen. Gemeinsam gehen wir durch die kleine Ausstellung. Ich erfahre, dass Vittorio 1944 hier in der Lagune auf Burano geboren wurde und sehr tief verwurzelt ist. Wir betrachten seine Werke, manches zaubert er auch aus der Kammer hinter dem Laden hervor und ich darf meine Fragen stellen…

Nur wenige Quadratmeter, aber voller Wunder: Dieser kleine Laden ist die Wirkstätte Vittorios und seiner Frau Graziella. (Foto: © Birte Sedat, 2020)

[Nerds in der Wildnis] Warum befassen Sie sich ausschließlich mit Naturobjekten?

[Vittorio Costantini] Natur bedeutet Leben. Glas ist das Material, mit dem es am schwierigsten zu imitieren ist. Als ich klein war, begleitete ich meinen Vater regelmäßig beim Fischen. Durch diesen steten Kontakt mit der Natur lernte ich diese auch zu beobachten: Die Fische in der Lagune und in den Flüssen, die Pflanzen und Insekten der Salzmarschen (Barene) und des Festlands, die Vögel der Lagune – alle meine Werke inspirieren sich daran. Die Natur ist mein Vorbild und meine Kreationen sind das Ergebnis von fünfundsechzig Jahren Erfahrung an der Arbeit mit Glas.

Blick nach Venedig von Lio Piccolo aus. Diese Landschaft ist typisch für die venezianische Lagune. Sie stellt ein einzigartiges Ökosystem dar. (Foto: © Birte Sedat, 2020)

[NidW:] Die Vielfalt der Barene und anderer Ökosysteme scheint mir wie ein riesiger Spielplatz der Natur. Gibt es ein Thema, das Sie besonders interessiert?

[Vittorio Costantini] Es gibt eigentlich kein besonderes Objekt für mich. Aber tatsächlich liebe ich die Herausforderung, Vögel oder Insekten zu kreieren. Manches erfordert tagelange Tests mit verschiedenen Zusammensetzungen an Farben, um die richtige Schattierung zu erreichen. Bei einem hohen Schwierigkeitsgrad kann es durchaus sein, dass neben einem großen Haufen zerbrochener, nicht verwendbarer Versuche, nur ein einziges perfektes Stück entsteht.

Ein Ziel, viele Anläufe: Der Weg zu einem Kunstwerk ist gepflastert mit vielen misslungenen Versuchen. (Foto: © Birte Sedat, 2020)

 

Die Frage, ob Vittorio mit einer seiner unzähligen Arbeiten etwas ganz besonderes verbindet, lässt ihn erst ein wenig nachdenken. Er wiegt den Kopf hin und her und zaubert schließlich aus dem Hinterzimmer eine kleine runde Box hervor. In dieser sitzt ein prächtiger, tropischer, mit unfassbar langen feinen Fühlern ausgestatteter Harlequinbock (Acrocinus longimanus). So zerbrechlich seine Beine und Fühler aussehen; sie sind dennoch erstaunlich robust. Ich lerne, dass es unterschiedliche Glasarten gibt. Vittorio verwendet für seine feingliedrigen Tierchen ein Glas, das besonders elastisch ist. Tatsächlich lassen sich Fühler und Beine ganz sacht drücken. Sie brechen nicht. Roher Gewalt allerdings würden sie freilich trotzdem nicht stand halten. Er nimmt das Objekt vorsichtig in die Hand und zeigt mir die ebenfalls naturrealistisch gestaltete Unterseite.

Ein Prunkstück: Der fast 12 cm große Harlequinbock. Rechts zum Vergleich eine naturrealistische Illustration. (Fotocollage: © Birte Sedat, 2020)

[Vittorio Costantini] Während all dieser Jahre habe ich am Brenner wirklich unglaublich viel geschaffen. Es mag aber in meiner Privat-Sammlung das ein oder andere Stück geben, von dem ich nur wenige Exemplare gefertigt habe. Solche Werke erfüllen mich mit tiefer Zufriedenheit. Dies ist z.B. bei diesem Harlequinbock der Fall. Oder auch einem Fangschreckenkrebs, eine Medusa… Und wer weiß, vielleicht werde ich auch erst morgen das eine und einzigartige Stück erschaffen.

[NidW] Arbeiten Sie direkt mit Wissenschaftler:innen zusammen?

[Vittorio Costantini] Das habe ich bislang noch nie, aber gelegentlich bekomme ich Aufträge von Museen um Käfer oder marine Kreaturen herzustellen. Solche Aufträge ergeben sich meist durch meine Ausstellungen. Außerdem beauftragen mich Entomolog:innen und Zoolog:innen gerne mal für ihre privaten Sammlungen oder weil sie etwas verschenken möchten.

Ich schaue mir die langen Buchreihen hinter und auf der Theke an – eine große Auswahl an japanischen, chinesischen, englischen und italienischen populärwissenschaftlichen Nachschlagewerken und Fachbüchern. Vittorio erzählt mir, dass er sich meist an Fotos, Illustrationen und Filmmaterial orientiert. Nur hin und wieder bringen ihm Auftraggeber ein Präparat vorbei. Ich habe den Eindruck, dass ihm Präparate nicht so lieb sind. Vittorio sieht das Leben lieber lebend.

Nachschlagewerke aus aller Welt dienen Vittorio Costantini als Wissenspool und Vorlage für seine Werke. (Foto: © Birte Sedat, 2020)

[NidW] Kunst und Wissenschaft – sehen Sie eine Verbindung? Was kann die Kunst und was können Sie für die Wissenschaft tun?

[Vittorio Costantini] Natürlich sind Kunst und Wissenschaft miteinander verbunden, die Wissenschaft hat schon immer Maler, Bildhauer und Kunsthandwerker inspiriert. Ich habe erlebt, dass ein Entomologe zu Tränen gerührt war angesichts der Genauigkeit, mit der ich dieses oder jenes Insekt gefertigt habe. Und gleichzeitig hat die Wissenschaft mir sehr geholfen, Fortschritte bei meiner Kunstfertigkeit zu machen.

Vittorio setzt sich an seinen Arbeitsplatz, der so zugestellt ist mit Dingen, dass man gar nicht weiß, wohin man als erstes schauen soll, und schmeißt seinen Brenner an. Ich habe schon am Schaufenster über eine langbeinige Spinne gestaunt, die mich sehr an die tropische Radnetzspinne Nephila sp. erinnert. Vittorio hält nun den Torso einer ebensolchen Spinne in der Hand und zeigt mir, wie er vorsichtig, aber mit sicherer Hand Glied um Glied mit einem Glasstab am Körper des Tieres ansetzt und hervorzieht. Nicht nur die Fragilität erfordert Fingerspitzengefühl und absolutes Können, auch der Einsatz der Flamme benötigt langjährige Erfahrung. Ein bisschen zu lange im Feuer oder ein wenig zu kurz und das Objekt ist hinüber und muss neu begonnen werden. Glas ist launisch. Es springt. Es nimmt die falsche Farbe an. Es verliert seinen Glanz. Es wird spröde und bricht. Es erfordert sechs Jahrzehnte Wissen und Erfahrung, um exakt das machen zu können, was man machen will.

 

Die richtige Temperatur, perfektes Timing, ruhige Hände und sehr viel Erfahrung – so entstehen Vittorios Kunstwerke. (Foto: © Birte Sedat, 2020)

[NidW] Wie geht es Ihnen angesichts des fortschreitenden Artensterbens und dem – mittlerweile deutlich sichtbaren – Klimawandel? Wie denken Sie, wird unsere Welt in hundert Jahren aussehen?

[Vittorio Costantini] Ich mache mir große Sorgen. Seit Jahrzehnten schlägt die Wissenschaft Alarm, aber wir tun nicht genug, um unseren Planeten zu retten. Umweltverschmutzung, globale Erwärmung, Entwaldung und Zerstörung von Habitaten, Ausbeutung der Meere – die wirtschaftlichen Interessen aller Nationen tragen zur Zerstörung bei. Alles ist von uns Menschen beschädigt. Welche Konsequenzen wird es geben, wenn der Mensch nicht auf den wissenschaftlichen Alarmschrei hört? Welche Welt überlassen wir unseren Kindern und Enkeln?

[NidW] Gibt es etwas, was Sie den Menschen mit Ihrer Kunst sagen möchten?

[Vittorio Costantini] Internationale Vereine wie WWF und Greenpeace, die mit ihren Kampagnen mehr Respekt gegenüber der Natur einfordern, sind sehr wichtig. Mit meiner Kunst hoffe ich, ebenfalls in der Lage zu sein, die Menschen dafür zu sensibilisieren, wie wunderbar diese Welt ist. Ich möchte sie daran erinnern, dass wirklich jeder verpflichtet ist, mehr für ihren Schutz zu tun.

Ich bedanke und verabschiede mich von den beiden und verlasse den kleinen Laden. Graziella schließt hinter mir zu. Diese Begegnung bewegt mich sehr. Wie lange werden die gläsernen Nachbildungen, die in Vittorios Insektenkästen zu bestaunen sind, noch als lebende Wesen ihre Habitate bereichern? Werden Vittorios Kunstwerke im nächsten Jahrhundert als Anschauungsmaterial für ausgestorbene Arten dienen, so wie es jetzt schon Abbildungen in Kunstwerken früherer Jahrhunderte tun? Unter dem Aspekt, dass großen Naturdenkmälern wie dem Great Barrier Reef nur noch wenig Jahre verbleiben, bis sie komplett zerstört sind und keiner weiß, was dann geschieht, bekommt Vittorios Kunst eine dringliche Brisanz. Und ich vermute, auch Vittorio würde ein Lebewesen lieber in Natura bestaunen, anstatt als eine seiner (wenn auch künstlerisch genialen) Nachbildung.

Miniaturkorallenriff (Foto: © Birte Sedat, 2020)

Webauftritt Vittorio Costantini

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