Mikroabenteuer, Naturbeobachtungen und Trekking für Leute mit Schlaubrille
24. August 2020

Tentakelmonster aus der Tiefe: Das Gorgonenhaupt

By In Creepy Crawlies, Evolution, La Mere, Sulawesi, Weit, weit weg!

„Großflächig war der Körper von einer Art Fell bedeckt, das sich bei eingehender Betrachtung jedoch als dicht gewachsene Ansammlung dunkler, dünner Tentakel oder saugfähiger Fasern entpuppte, deren jede einen Mund aufwiesen, der an den Kopf einer Natter erinnerte. Am Kopf und unter den Rüssel schienen die Tentakel dichter und länger zu wuchern und mit dem Spiralenmuster der Schlangen einer Medusa verwandt zu sein. Das Ding war unbegreiflich – und doch bewies das Foto, dass es existierte.“

H.P. Lovecraft, Altmeister des Horrors, beschreibt in seiner Kurzgeschichte „The Horror in the Museum“, die er 1932 als Ghostwriter für Hazel Heald verfasst hatte, den Kopf des Monsters „Rhan-Tegoth“ – ein „großer Alter“, was im düsteren Lovecraft’schen Universum bedeutet, dass das Viech eine Art urzeitliches, auf der Erde gestrandetes Alien sein soll und sich von eingeweihten (menschlichen) Kultisten als Gottheit verehren lässt.
Lovecrafts kreatürliche Schilderungen sind, so bizarr sie auch sein mögen, von der Natur inspiriert. Eingeweihte beschreiben den Schriftsteller als naturalistisch interessiert und als Leser biologischer Fachliteratur. Das Feuer seiner Faszination muss jedoch von Angst und Ekel verdunkelt gewesen sein, denn vieles von dem, was er da studierte, beunruhigte ihn zutiefst. Ganz besonders wurde seine Phantasie wohl von wirbellosen Meerestieren angeregt, denn nicht nur versteckten sich seine „großen Alten“ mit Vorliebe in den lichtlosen Tiefen der Ozeane, um die Menschheit von dort aus heimzusuchen, sondern es zieren auch Stielaugen, Antennen, Krebsscheren und Tentakel, verbunden mit einer irritierenden Formlosigkeit, seine geistigen Schöpfungen.

Es gibt Tiere, die sind äußerlich derart fremdartig, dass sie von einem anderen Planeten stammen könnten.

An Lovecrafts Kreaturen muss ich denken, als ich in 18 Metern Wassertiefe durch die Schwärze der Straße von Makassar im südostasiatischen Meer treibe. Ich befinde mich auf einem Nachttauchgang vor der Küste Donggalas, einer Provinz der Insel Sulawesi, und beobachte fasziniert, wie eine nicht enden wollende Masse von zuckenden und wimmelnden Kleinlebewesen wie Schneetreiben durch die beiden Lichtkegel meines Kamera-Racks zieht, um neben mir wieder in der Dunkelheit zu verschwinden. Die Strömung ist schwach aber spürbar, und ich muss meine Position im Wasser immer wieder mit leichten Flossenschlägen korrigieren, um an Ort und Stelle zu schweben.

Nachttauchgänge gehören zum Einmaleins des Sporttauchens und sind Teil einer jeden vollständigen Tauchreise. Nicht als Mutprobe, sondern weil sie einfach wunderschön und faszinierend sind! Nachts ist das Meer nämlich ein anderes als tagsüber, und das gilt für Korallenriffe wie dieses hier vor Donggala ganz besonders. Wenn es dunkel wird, begeben sich all die bunten Korallenfische, die das Riff tagsüber dominieren, zur Ruhe und die Polypen der meisten Korallen schließen sich. Dafür trauen sich Raubfische wie Muränen, Rotfeuerfische und Schwarzspitzenriffhaie vermehrt aus ihren Verstecken und gegen auf die Jagd. Die Rolle der filtrierenden Weichkorallen nehmen nun vermehrt Schlangen- und Federsterne ein, die ihre fluffigen Wedel in die Strömung halten und das Plankton filtrieren.

Ein Zucken in der Dunkelheit

Der Grund, warum ich an dieser ganz bestimmten Stelle des Riffs schwebe, ist eine höchst bizarre Kreatur, die mich sowohl zum Lovecraft-Vergleich als auch zum Aufhänger dieses Erlebnisberichtes inspiriert hat. Vor mir im Riff wuchert, zwischen all den Korallen, ein stattlicher Vasenschwamm der Gattung Xestospongia, am Fels. Der Name ist Programm, denn dieser Schwamm sieht tatsächlich wie eine bauchige Vase oder ein Fass aus (Im Englischen nennt man ihn deshalb auch „Barrel Sponge“), hat oben eine große runde Öffnung und ist innen komplett hohl. Und in diese Öffnung ist soeben etwas hinein ge… hm, was eigentlich? Gehuscht? Gekrochen? Geklettert? Geflossen?
Langsam, mit der Kamera zwischen beiden Händen, schwimme ich direkt über den Schwamm und kucke verwundert auf einen Haufen sich windender Tentakel herunter, die den Schwamm mehr oder weniger komplett ausfüllen. Der Tentakelhaufen scheint ungefähr einen halben Kubikmeter einzunehmen, eine Schätzung, die mit Vorsicht zu betrachten ist, da unter Wasser alle Gegenstände größer wirken, als sie tatsächlich sind. Trotzdem ist diese Ansammlung sich ringelnder Rankenwürmer auf den ersten Blick beeindruckend und auch ein bisschen creepy. Jeder dicke Tentakel teilt sich in einer Richtung, also nach Außen, in weitere, kleinere Tentakel auf, die sich weiter aufteilen und irgendwann in zuckenden Spitzen enden. Das Ganze hat etwas von Pflanzenranken, die einem Stamm entspringen und sich in viele kleine Farnwedel aufteilen… mit dem faszinierenden Unterschied, dass sich jeder Farnwedel unabhängig bewegt und all die vielen kleinen Enden sich ständig auf- und entrollen.

Schaut man noch genauer hin, dann zählt man der dicken Stränge fünf und erkennt, dass sich diese alle irgendwo in der Mitte des Haufens treffen, und zwar strahlenförmig um einen zentralen Körper herum drapiert. Dieser Körper ist radialsymmetrisch, Rot-orange gemustert und sieht wie ein dickes, warzigen Kissen aus. Es handelt sich also nicht um eine Gruppe von Tieren, sondern um eine einzige, zusammenhängende Kreatur. Und die kann sich fortbewegen!

Tentakel
Seltsamer Tentakelhaufen in einem Vasenschwamm. Bitte entschuldigt die schlechte Bildqualität, es handelt sich um einen Snapshot aus einem Film (siehe weiter unten). Bild: Torsten Schneyer

Sobald die Lichtkegel meiner beiden Lampen das Tier berühren, reagiert es. Ein Zucken geht durch die Arme und diese beginnen sich, man glaubt es kaum, koordiniert zu regen. Ganze Armabschnitte rollen sich ein, während andere fächerförmig ausrollen. Winzige Spiralen greifen in die Fugen des Vasenschwamms und in einer einzigen koordinierten Anstrengung kriecht das Subjekt unserer Neugier nach unten in die Sicherheit seiner Behausung. Die ganze Bewegung wirkt fließend und hakelig zugleich; paradox und unmöglich, wie das ganze Tier.

Was zur Hölle mag das sein?

Der Kopf der Medusa

Ich selbst wusste bereits vor diesem Tauchgang Bescheid, möchte die Leser*innen jedoch zum Raten anregen: Unsere Tentakelkreatur hat also fünf Arme, die radialsymetrisch um einen zentralen, kompakten Körper angeordnet sind. Augen sehen wir keine, ebenso wenig einen Mund. Der Mund könnte sich auf der Unterseite der Körperscheibe befinden und, ich verrate es euch, tut es auch. Na, klingelt es?

Wer jetzt an einen Seestern denkt, liegt richtig! Unsere rätselhafte Kreatur ist ein Schlangenstern aus der Familie der Gorgonocephalidae, die sich in aktuell 47 Gattungen aufteilt. Damit gehört sie zu den Stachelhäutern und ist eine Art Cousine der Seesterne, also der Tiere, die man als knuffig herumliegende, irgendwie-aber-man-weiß-es-nicht-genau-lebendige Dinger von den etwas naturbelasseneren Küsten gängiger Urlaubsziele kennt.

Da Schlangen- und Seesterne einer (sich mir logisch nicht wirklich erschließenden) Konvention folgend keine Tentakel, sondern Arme haben, wolle wir diese von nun an, Lovecraft hin, Chutulhu her, auch als solche bezeichnen. Unser besonderer Schlangenstern hat also keine Tentakel, sondern sehr ungewöhnlich ausgebildete Arme!
Spezies der Gorgonocephaliden-Familie wurden von den deutschen Naturforschern dereinst als „Gorgonenhäupter“ tituliert. Eine für das in die Antike verliebte 18. Jahrhundert nahe liegende Benennung, wenn man an die Gorgonen der griechischen Mythologie denkt: Diese haben auf ihrem Kopf Schlangen anstatt Haare, was wohl sowohl beim Frisieren als auch bei der Teilnahme an Schönheitswettbewerben hinderlich gewesen sein dürfte.
Die deutsche Benennung wiederum war auch nur die Übernahme internatonialer Namenskoventionen und geht auf die originale, lateinische Namensgebung des schwedischen Naturforschers und Vaters der Taxonomie, Carl von Linné, zurück: „Asterias caput-medusae“ nannte er das Tier. Asteria bedeutet „Stern“ und caut-medusae „Kopf der Medusa“… womit auf die bemitleidenswerte Gorgone angespielt wird, die Perseus, Sohn des Zeus, auf einem seiner mythologischen Quests enthauptet haben soll.

Zwei Arten der Gorgonenhäupter sind in den Flachwasser-Korallenriffen vor Sulawesi häufig: Astroboa nuda und Astroboa ernae (Fun Fact: Letzteres bedeutet übersetzt „Ernas Schlangenstern“. Keine Ahnung, ob sich Erna über die Benennung gefreut hat, aber Taxonomen sind oft seltsame Menschen). Fest steht: Mein Kandidat gehört eher nicht zu einer dieser beiden Arten. A. nuda ist sehr hell, fast schon weißlich gefärbt und ich sehe die Art ebenfalls bei meinen Tauchgängen, habe also den direkten Vergleich. A. ermae käme farblich in Frage, wäre „mein“ Gorgonenhaupt mit einer etwas glatteren Haut gesegnet. Leider gelingt mir keine genaue Artbestimmung. Im Internet kursieren Hinweise auf mehrere andere noch unbeschriebene Spezies. Also bleibe ich beim seriös-ungewissen Astroboa sp.

Die folgende Filmaufnahme habe ich während meiner Begegnung mit meinem Astroboa sp. gemacht, achtet mal auf die Bewegung der vielen kleinen Ärmchen!

YouTube video

Equipment-Intermezzo: Unterwasser-Filmen für kleines Geld



Ein Unterwassergehäuse für die eigene System-Kamera kann spielend leicht teurer werden als die Kamera selbst. Eine preiswertere Alternative sind Action-Cams mit mitgeliefertem Unterwassergehäuse. Die Filmaufnahme oben wurden mit einer Gopro Hero gemacht. Diese Kamera ist unverwüstlich, kommt mit einigem Zubehör daher und, der eigentliche Knüller daran: wird standardmäßig mit einem Unterwassergehäuse ausgeliefert, dass bis zu 40 Meter Tiefe Dichtigkeit garantiert. Die aktuelle Version macht 4K-Videos und kann sogar Live-Streaming.


Für Aufnahmen, die nicht im Meeresblau (oder Seegrün) absaufen und insbesondere für Aufnahmen während Nachttauchgängen (wie hier beim Gorgonenhaupt) benötigt man eine Unterwasserlampe, die sich fest mit der Kamera montieren lässt. Mein eigenes Gopro-Rack, mit dem ich sehr zufrieden war, bevor es dieses Jahr zerbrach, wird nicht mehr produziert. Das D&F-Tauchlampen-Kit ist eine durchaus praktikable Alternative, die noch dazu bezahlbar ist.

Ein gemütliches Dasein

Soviel negative Assoziationen mit antiken Monstern hat unser Gorgonenhaupt freilich gar nicht verdient, genauso wenig wie das grelle Licht meiner LED-Lampen. Ich schalte eine davon aus und die andere richte ich ein wenig zur Seite, um das Tier nicht weiter zu verschrecken. Und siehe da, genauso tastend und hakelig, wie es eben noch verschwinden wollte, wälzt es sich nun wieder aus dem Vasenschwamm heraus nach oben und platziert sich auf dessen Rand.

Gorgonenhäuper sind offensichtlich sehr lichtscheu. Was aber kein Beleg ihrer Hinterlistigkeit ist, sondern vielmehr ihrer Vorsicht: Denn gegenüber eventuellen Fressfeinden sind diese Tiere fast vollkommen schutzlos. Schlangensterne haben weder wehrhafte Zähne, mit denen sie sich verteidigen könnten, noch sind sie besonders stark oder schnell. Tagsüber verschwinden sie im Riff und rollen sich zu einem kompakten, möglichst unauffälligen Ball zusammen. Wenn im Korallenriff die Nacht anbricht, warten sie meist noch eine Stunde, entrollen dann all ihre Arme und wandern nach oben, auf den Korallenstock hinaus. Große Wanderschaften unternehmen sie dabei freilich nicht, genaugenommen sind sie sogar recht konservativ und ortstreu. Bei regelmäßigen Nachttauchgängen kann man die gleichen Gorgonenhäupter immer wieder an den gleichen Stellen beobachten. Selten liegen zwischen Versteck- und Futterplatz mehr als ein ganzer Meter und am Ziel ihrer kurzen, abendlichen Kriechtour angekommen, vollziehen die Tiere dann plötzlich eine überraschende Verwandlung. Eine verblüffend schöne Metamorphose, deren Zeuge ich auch jetzt werde:

Omas Spitzendeckchen

Auf dem Rand des Schwammes postiert sich „mein“ Gorgonenhaupt so, dass es sich mit den kürzesten, nah am Zentralkörper gelegenen Ausläufern seiner Arme gut am Untergrund festhalten kann. Dann geht das Tier auf wie eine Blume! Das amorphe Chaos des Tentakelhaufens sortiert sich plötzlich zur ungeahnten Ordnung, als sich alle fünf Arme weit strecken und fächerförmig ausbreiten. Das Ergebnis erinnert an eine löchrige Radarschüssel, einen viktorianischen Sonnenschirm oder an die hellen Spitzendeckchen, die unsere Omas über den Kaffeetisch zu legen pflegten. Diese Form hat dem Gorgonenhaupt auch seine, weit schmeichelhaftere, englische Bezeichnung „Basket Star“ eingebracht. Jeder einzelne der Tentakel entrollt sich und plötzlich lässt sich die fraktale Geometrie der Farnwedel-artigen Arme gut erkennen.

Und tatsächlich erfüllt dieser Fächer eine ähnliche Funktion wie ein Farnwedel: Er soll nämlich etwas sammeln. Farne sind Pflanzen und sammeln Licht. Gorgonenhäupter hingegen sind Tiere und sammeln: Plankton! Unser Gorgonenhaupt ist, wer hätte es gedacht, ein wandelndes Sieb. Zu Beginn dieses Textes erwähnte ich das dichte Zooplankton, welches insbesondere Nachts durch das Korallenriff treibt und das Wasser zuweilen wie ein Schneetreiben wirken lässt. Es setzt sich zusammen aus einer Unzahl von Fischlarven, Krebstierchen, Würmern und den Larvenstadien von Quallen, Kopffüßern, Muscheln und natürlich auch Stachelhäutern.

Astroboa nuda
Nahansicht eines Arms von Astroba Nuda, dem „nackten Gorgonenhaupt“.

Das Gorgonenhaupt spannt seinen Körper als großes, halbrundes Fangnetz aus, und zwar quer zur Strömung. Bleibt eines der vielen winzigen Tiere in diesem Netz aus Armen hängen, verhakt es sich zwischen diesen und wird sofort vom nächstbesten Armspitze umschlungen und festgehalten. Von dort aus wird die Beute – wie von den Händen einer Menschenkette – von Ärmchen zu Ärmchen weiter gegeben, bis die dem Körper am nächsten sitzenden Armenden den Happen schlussendlich zum Mund führen. Größeres Plankton oder aber Mehrfach-Fänge können dazu führen, dass das Gorgonenhaupt auch mal den ganzen Arm einrollt und zur Mundöffnung führt.

Fremd, fremdartiger, Stachelhäuter

Stachelhäuter sind, für unser Verständnis, höchst fremdartige Kreaturen und zumindest dies haben sie mit den Phantasmen H.P. Lovecrafts gemeinsam. Wenn wir an Tiere denken, dann stellen wir sie uns grundsätzlich achsensymetrisch vor: Es gibt ein Vorne, da ist meistens der Kopf, und es gibt ein Hinten. Vorne am Kopf sind stets der Mund und die Augen, hinten und in Bauchnähe befinden sich Ausscheidungs- und Geschlechtsorgane. Vor allem aber gibt es eine rechte und eine linke Seite: Dort befinden sich jeweils Glieder zur Fortbewegung, egal ob das nun Beine, Flossen oder Flügel sein mögen. Pferde, Schafe, Hühner, Eidechsen, Frösche, Fische… ja sogar Heuschrecken und Krebse folgen diesem Bauplan, der fast so alt ist wie das Tierreich selbst. Sie alle gehören zu den Chordata, den Rückensaitentieren. Doch längst nicht alle Tierstämme folgen diesem Prinzip: Die Echinodermata, die Stachelhäuter sind anders. Der Begriff der Radialsymetrie ist bereits mehrfach gefallen und tatsächlich ordnet sich der komplette Körper, wie die Stücke einer Torte, in fünf gleichen Teilen um eine gedachte Achse herum an, deren Zentrum der senkrechte Nahrungsapparat mit dem Mund an der Unterseite bildet.

Das Verdauungssystem liegt zentral in der Mitte des runden Körpers und ist im Grunde nicht mehr als ein sackförmiger Magen hinter der Speiseröhre. Einen Enddarm besitzen sie nicht und somit auch keinen After. Die Beute wird nahezu komplett zersetzt und die Abfallstoffe verlassen den Körper durch Diffusion in Form von Ammoniak.
Ein Gehirn in unserem Sinne hat das Gorgonenhaupt nicht. Alle Schlangensterne besitzen eine ringförmige Ansammlung aus verdichteten Nerven, die einmal rundum durch ihre Körperscheibe läuft. Von diesem Zentralganglion gehen Nervenbahnen in jeden Arm und verzweigen sich dort weiter. Das Nervensystem aller Schlangensterne ist dezentral, in gleichen Segmenten, angeordnet. Dennoch, oder gerade deswegen, ist es dem Gorgonenhaupt möglich, mit Hunderten von Armausläufern koordinierte Bewegungen auszuführen und zielgerichtet zu agieren. Jeder dieser Ausläufer für sich ist durchaus in der Lage, eigenständig auf Stimuli, z.B. auf ein ertastetes Beutetier, zu reagieren und sich entsprechend aufzurollen. Um sich jedoch als komplette Einheit zu bewegen, bedarf es der Koordination durch den zentralen Nervenring, wobei (einer unten verlinkten Studie von Elizabeth G. Clark Et al. zufolge) dieser Ring auch an einer Stelle vollständig durchtrennt sein kann, um seine Aufgabe noch zu erfüllen.

Gorgonenhaupt
Gorgonenhaupt an Land. Leider landen die Tiere oft als Beifang in Bodenschleppnetzen. Dieses hier wurde jedoch während einer Tiefsee-Forschungsmission gesammelt.

Schlangensterne haben keine Augen, können jedoch über lichtempfindliche Nervenenden hell und dunkel unterscheiden. Sie sind taub, aber ihr Tastsinn ist, wie zu erwarten, gut ausgebildet. Die Atmung erfolgt über zehn kaum erkennbare Körperschlitze, zwei an jedem der „Tortensegmente“ und sie führen zu innen gelegenen Kiemenstrukturen.

Obwohl die Tierstammbezeichnung „Stachelhäuter“ etwas anderes suggeriert, haben Gorgonenhäupter kein starres Außenskelett und auch keine Stacheln. Bei ihnen sind die harten Kalkplatten, wie sie ihre Verwandten der Seeigel und mancher Seesterne besitzen, nach innen gewandert und bilden ein Innenskelett. Jeder der vielen Armverzweigungen besteht aus einer Vielzahl von kleinen Kalksegmenten, die, im Prinzip mit unserer eigenen Wirbelsäule vergleichbar, von Muskelsträngen umgeben sind. Darüber liegt noch eine zähe, lederartige Haut.

Astrophyton darwinium
Der deutsche Zoologe Ernst Heackel ließ das Gorgonenhaupt Astrophyton darwinium für sein wegweisendes Buch „Kunstformen der Natur“ zeichnen. Die Figur ist Teil einer Bildtafel und wurde von Adolph Giltsch angefertigt. In dieser stilisierten Form erkennt man gut die fünfteilige Symmetrie und bekommt auch den Mund des Tieres zu sehen.

Gorgonenhäupter haben Geschlechter, es gibt sie in der männlichen und der weiblichen Variante. Unterscheiden kann man sie von außen freilich nicht, und auch sie selbst müssen sich gegenseitig nicht erkennen, denn: Sie haben keinen Sex, wie wir ihn verstehen würden. Tatsächlich ignorieren sich Gorgonenhäupter vollkommen und suchen auch keinen Kontakt zueinander. Die Fortpflanzung funktioniert, indem alle Tiere mehr oder weniger zum selben Zeitraum eines Jahres, wahrscheinlich getriggert von einem bestimmten Zusammenspiel aus Wassertemperatur und Mondphasen, ihre Eier und ihre Spermien ins Wasser abgeben. Das allermeiste davon wird vom Zooplankton erwischt und gefressen. Dort, wo eine Befruchtung stattfindet, entwickeln sich frei schwimmende Larven, welche in diesem Entwicklungsstadium einen bilateralen (zweiseitigen) Körperbau aufweisen und eine Weile als Teil des pelagischen Planktons herum treiben, bevor sie sesshaft werden. Nicht auszuschließen, dass viele Larven des Gorgonenhauptes selber im Magen eines solchen landen.

Ein fremder Stern

Darüber hinaus weiß man über Gorgonenhäupter erstaunlich wenig. Tatsächlich ist die Forschung über sie in den letzten hundert Jahren ziemlich eingeschlafen und nur ein paar Taxonomen schieben die Arten zwischen den Gattungen hin und her. Meine vorletzte Begegnung mit einem Gorgonenhaupt hatte ich, man mag es kaum glauben, in der Aquaristik: nur 20 cm groß im ausgebreiteten Zustand wedelte mir ein kleines, schwarzes Gorgonenhaupt im Schaubecken eines Riffaquaristik-Händlers entgegen und schien „kauf mich“ zu gestikulieren. Wie niedlich! Zum Glück habe ich damals widerstanden, den kleinen Spiralenhaufen mit nach Hause zu nehmen und in mein eigenes Riff zu setzen (wen es interessiert: 250 Liter, Berliner System mit Lebendgestein, Weich-und Steinkorallen und einer großen Lederanemone). Später las ich nämlich, dass sich Gorgonenhäupter nur äußerst schwer in Aquarien halten lassen, weil die Planktondichte in den allermeisten Becken viel zu gering ist… sie verhungern also. Außerdem handelt es sich in allen Fällen um Wildfänge, eine Nachzucht wurde noch nie versucht.

Über Nahrungsmangel kann dagegen dieses Gorgonenhaupt, dass ich in seiner natürlichen Umgebung beim Filtrieren beobachte, kaum klagen: Immer wieder verfangen sich kleine, zuckende Krebschen im Armgeflecht und werden geduldig verspeist.

So dürfte es dann auch die ganze Nacht zugegangen sein: Arme ausfächern, abwarten, Arme einrollen, Plankton ablutschen. Und ganz selten mal dem grellen Licht von Tauchern aus dem Weg kriechen. So geruhsam die Nacht des Gorgonenhauptes beginnt und abläuft, so vorhersehbar geht sie zu Ende: Etwa eine Stunde vor Sonnenaufgang konfiguriert sich das seltsame Tier von der hübschen Fangnetz-Form in die etwas unansehnlichere Armhaufen-Kriechform zurück und begibt sich auf den kurzen Heimweg ins Tagesversteck. Dort, in der Sicherheit des Korallenstocks oder einer Höhle tief im Vasenschwamm angekommen, rollt sich das Gorgonenhaupt zu einem festen, warzigen Ball zusammen und ward für die nächsten vierzehn Stunden nicht mehr gesehen. In meinem Fall ist es bis dahin noch Zeit und ich wage ein kleines Experiment.

Give me high hundred!

Eine der Grundregeln des Sporttauchers lautet: Fasse nichts an, denn es könnte giftig, oder aber sehr empfindlich sein. Giftig sind Gorgonenhäuper nicht, soviel weiß ich. Und empfindlich scheint mir dieses hier nur gegenüber grellem Licht zu sein. Vorsichtig strecke ich den Zeigefinger meiner rechten Hand aus und berühre einen der Arme.
Zwei kleine Armspitzen ringeln sich um den Finger, eine zarte, vorsichtige Berührung. Sie fühlen sich an wie geriffeltes Plastik… würden sie sich nicht bewegen, könnte man sie für unbelebt halten. Für zehn Sekunden hält mich das Gorgonenhaupt mit seinen winzigen Armfortsätzen am Zeigefinger fest… ein kurzer Kontakt zwischen zwei Erfahrungs- und Lebenswelten, wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten. „Weiß“ es, dass ich da bin? Hält es meinen Finger für Nahrung? Niemand kann das sagen, eine Anthropomorphisierung mit etwas, das weder ein Gesicht noch ein „Vorne“ hat (geschweige denn ein anständiges Gehirn), fällt schwer. Dann treibt mich die Strömung etwas zur Seite, die Arme lösen sich und das Tier filtriert fleißig weiter, ungestört.

Die Begegnung mit Astroboa sp. hat einen bleibenden Eindruck hinterlassen. Nicht nur, weil Gorgonenhäupter bei näherer Betrachtung eigentlich gar nicht gruselig, sondern im Gegenteil ziemlich gemütliche und wirklich ästhetische Tiere sind.
Und vor allem auch deshalb, weil es mich fasziniert, dass etwas derart Fremdes und andersartig Aufgebautes ganz genau wie wir lebt, atmet, sich bewegt und offensichtlich seine Umwelt wahrnimmt. Der letzte gemeinsame Vorfahr der Stachelhäuter und der Säugetiere (zu denen wir zählen) hat vor über 540 Millionen Jahren gelebt, und doch teilen wir immer noch bestimmte Gensequenzen.
Ich hoffe, wir können diesen Planeten weiter zu fairen Konditionen miteinander teilen.


Weiterführende Links

Global Diversity of Brittle Stars (Echinodermata: Ophiuroidea)

The function of the ophiuroid nerve ring: how a decentralized nervous system controls coordinated locomotion

 

Bildquellen:

Titelbild: Ernst Haeckel, Kunstformen der Natur, 1904

Seltsamer Tentakelhaufen: Torsten Schneyer

Video Gorgonenhaupt Astroboa sp.: Torsten Schneyer

Astroba nuda: Rickard Zerpe, Wikipedia, Lizenz 

Gorgonenhaupt an Land: Charleston Bump Expedition 2003. NOAA Office of Ocean Exploration; Dr. George Sedberry, South Carolina DNR, Principal Investigato, Wikipedia, Lizenz 

 

 

 

 

 

 

1 Comment
  1. […] das Grauen nicht wirklich vorstellen können, dass das transdimensionale Böse einfach nicht das Tentakelmoster ist, das sowohl als FX-Puppe oder als dahingerenderte CGI-Darstellung einfach nur lächerlich […]

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