Unsere aktuelle Heimatstadt Leipzig hat, neben viel Geschichte, pittoresken Altbauten und Leipziger Lerchen (eine Süßigkeit) auch für den Naturfreund einiges zu bieten. Nicht nur haben wir wirklich eine Menge Parks und den schönen Auwald (ein Ökosystem von großer Faszination und Seltenheit), sondern auch eine ganze Menge Flüsschen, Kanäle und Bäche. Drei natürliche Flüsse, von denen die Weiße Elster der größte ist, bilden seit der Industrialisierung die Grundlage für ein verzweigtes System der Wasserwege, welches Leipzig den Ruf einer Wasserstadt und den Spitznamen „Venedig des Ostens“ eingebracht hat. Auf diesen Kanälen findet, abgesehen von Paddelbooten und Touristenbeförderern (auf denen zum Glück kein sächsischer Gondoliere singt!), keine Schifffahrt statt. Und da sie auch eher gemächlich dahin fließen, sind sie – trotz der oft starken Randbebauung – Heimat für viele Tiere, die es sich in der City entlang der Kanäle gemütlich machen. Neben den unvermeidlichen Enten, Schwänen und diversen Süßwasserfischen kann man mitten in der Stadt regelmäßig Raubvögel, Graureiher und Waschbären in der unmittelbaren Nähe dieser Gewässer beobachten.
Das Irgendwas im Biberpelz
Ein weiterer Kanalbewohner, an dem man hier ebenfalls nicht vorbeikommt, ist die Nutria.
Ganz recht, es heißt DIE Nutria, nicht: das Nutria… aber dazu später mehr.
„OH, NUTRIAS… WIE SÜÜÜÜÜÜÜß!!“ ist eventuell einer der häufigsten Ausrufe von angetrunkenen Kanalspaziergängerhippstern und verschwitzen Kajakerinnen. Die uninformierte Variante dieses Ausrufs lautet: „Schau mal, ein Biber!“ oder „Mensch, ist DAS eine große Ratte!“
Beide Irrtümer sind verständlich, denn zum Einen klingt „Nutria“ einfach zu sehr nach einem Brotaufstrich, um mit einem schwimmenden Säugetier assoziiert zu werden, zum Anderen sieht das Nutria tatsächlich ein wenig wie eine Kreuzung aus Biber und Ratte aus. Kein Wunder, dass einige der deutschen Trivialnamen „Biberratte“, „Schweifbiber“ oder „Schweifratte“ lauten. Die Bezeichnung „Nutria“ wiederum stammt aus dem Spanischen und bedeutet „Fischotter“, was eine weitere, historisch bedingte, Fehleinschätzung darstellt. Die weibliche Endung auf „a“ und wohl auch die volkstümliche „Verrattung“ der Nutria dürfte für den weiblichen Artikel verantwortlich sein.
Tatsächlich gehören Nutrias, das haben molekulargenetische Analysen inzwischen zweifelsfrei bewiesen, zu den Stachelratten (Echimyidae), eine Nagetierfamilie, die wiederum in die Unterordnung der „Stachelschweinverwandten“ (Caviomorpha) eingeordnet gehört. Mit Ratten und Bibern haben sie nur den Status eines Nagetieres (Rodentia) gemein und mit Ottern lediglich die Tatsache, dass es sich in beiden Fällen um Säugetiere handelt, die im Wasser leben. Und um eine weitere Verwechslung aus dem Weg zu räumen: Die Nutria ist auch nicht mit der Bisamratte (Ondatra zibethicus) identisch! Und übrigens, um das auch noch klarzustellen, es heißt der Bisam oder die Bisamratte.
Wie kommt die Nutria (Myocastor coypus) dann zu ihrem irreführenden, noch dazu spanischen Namen? Und wie kommen wir überhaupt zur Nutria? Beide Fragen gehören zusammen und insbesondere die letzte Frage ist wichtig, denn die Nutria schwamm vor hundert Jahren keineswegs durch die Leipziger Kanäle und gilt in Deutschland überhaupt erst seit den 30er Jahren des letzten Jahrhunderts als heimisch. Ursprünglich stammt sie aus den Sümpfen Südamerikas, was denn auch das Spanische erklärt. Spanische Conquistadoren und Siedler waren es, die diesem niedlichen Tierchen nicht nur das Fell über die Ohren zogen, sondern es auch gleich in ihrer Sprache benannten. Die Nutria ist also ein Neozon in Europa.
Nutzung und Siegeszug
Apropos „Fell über die Ohren“: Der Pelz dieser Nager ist als Rohstoff erst einmal nur bedingt attraktiv, was an den borstigen Grannenhaaren liegt. Nur das Unterfell wird vom Menschen seit jeher als angenehm flauschig empfunden, weswegen der Nutriapelz gerupft und sogar geschoren werden muss, bis man das begehrte Nutriafell erhält. Die Nutria gehört zu den wenigen Säugetieren, deren Bauchfell als attraktiver gilt als das Rückenfell. Das liegt nicht nur an den besagten Grannen, die sich vor allem auf dem Rücken befinden, sondern auch an den Milchdrüsen des Weibchens. Diese liegen eher seitlich am Rücken, wahrscheinlich weil dies den Nutriababys ermöglicht, im Schwimmen zu trinken und gleichzeitig zu atmen. Aus diesem Grund wird der Nutriapelz zur Gewinnung oft den Rücken, und nicht über die „Wamme“ entlang aufgeschnitten und über die Bauchseite abgezogen.
Auch als Fleischlieferantin wurde die Nutria genutzt. Sowohl historische Quellen als auch moderne Wildfleisch-Lieferanten beschreiben sie als wohlschmeckend, ja sogar als delikat.
Zuerst jedoch wurden den Nutrias diese Eigenschaften zum Verhängnis und Anfang des 19. Jahrhunderts galten die südamerikanischen Bestände als nahezu ausgerottet. Was tut der Mensch, wenn er eine für ihn nützliche und vor allem finanziell lukrative Spezies an den Rand des Aussterbens bringt? Er fängt sie ein und macht sie zum Nutztier. Nutria-Farmen hatten ihren großen Boom im späten 19. und im gesamten 20. Jahrhundert. Weltweit wurden Nutrias gefarmt, ganz besonders intensiv im Süden Nordamerikas. In Europa begannen zuerst die Franzosen mit der Auswilderung zu Jagdzwecken. Nach dem 2. Weltkrieg war die Bundesrepublik europäischer Hauptabnehmer von Nutria-Erzeugnissen und später tat sich vor allem die DDR im Nutria-Geschäft hervor. In DDR-Gefängnissen war „Nutria mit Pellkartoffeln“ ein alltägliches Gericht.
Es gibt Tierarten, die lassen sich diese Versklavung duldsam gefallen und verschwinden dann still und leise in den Tierfabriken der Menschheit. Nicht so die Nutrias. Ihre Revanche ließ nicht lange auf sich warten. Zur Hochzeit seiner industriellen Nutzung hatte sich das anpassungsfähige Kerlchen gleichzeitig als Wildtier längst über ganz Mitteleuropa verbreitet und gehört inzwischen in vielen, auch vollkommen urbanisierten Landstrichen zum alltäglichen Bild. Hier lungern sie in großer Zahl an unseren Flüssen, Bächen, Kanälen und Teichen herum und denken gar nicht daran, wieder zu verschwinden.
Lebensweise
Nutrias leben größtenteils aquatisch, sind mit ihren zu Paddeln entwickelten Pfoten bestens ans Wasser angepasst und kommen nur zum Fressen, Sonnen und zu diversen sozialen Aktivitäten wie der gegenseitigen Fellpflege an Land.
Sie graben leicht zu entdeckende Erdbaue, in denen sie schnell Schutz suchen können. Die Eingänge dieser Höhlungen liegen übrigens oberhalb der Wasseroberfläche… etwas, was die Nutria z. B. vom Biber unterscheidet, der seine Behausung nur tauchend betritt.
Nutrias sind Vegetarier mit omnivorem Einschlag, sie ernähren sich von Wasserpflanzen, Stengeln, Blättern und peppen ihre Speisekarte mit gelegentlichen Protein-Snacks aus Schnecken und Wasserinsekten auf. Nutrias leben sehr gesellig in Großfamilien, können sich das ganze Jahr über fortpflanzen und zwar zwei- bis dreimal im Jahr. Pro Wurf bringen sie bis zu acht bereits fertig behaarte und ziemlich fitte Babys zur Welt, die nach nur fünf Monaten geschlechtsreif sind. Auch diese rasante Vermehrungsrate ist einer der Gründe für den Eroberungszug der pelzigen Scheinbiberchen.
Die Nutria als Schädling
Nutrias erobern also die Welt, zumindest aber Europa. In den letzten 15 Jahren hat sich ihr Bestand bei uns mehr als verdoppelt! Sie gelten als Schädlinge und dies in dreierlei Hinsicht: Zum Einen ist ihre intensive Grabtätigkeit in den großen Wohnhöhlen dazu geeignet, Deiche, Brücken und sonstige Uferanlagen zu beschädigen, was in Städten mit hohem Gewässeranteil ein ernstes sicherheitstechnisches und wirtschaftliches Problem darstellen kann. Zum Anderen haben die Tiere auch einen starken Einfluss auf die Gewässerökologie, denn viele Nutrias fressen auch ziemlich viel, wobei sie durchaus Schäden in größerem Maßstab anrichten können. Schilfrohrgürtel, die einen Lebensraum z. B. für seltene Singvögel darstellen, können von ein paar Nutria-Kolonien innerhalb weniger Jahre auf ein Stoppelfeld dezimiert werden. Das dritte Problem mit Nutrias ist, dass ihr Bestand mit dem der Bisamratte, die ebenfalls ein Schädling ist, wechselwirkt: Zwar können Nutrias die kleineren Bisamratten langfristig bedrängen, doch gleichzeitig lösen Nutrias Bisamfallen aus, die zur Kontrolle des Bestandes ausgelegt werden… und zwar ohne selbst dabei Schaden zu nehmen. Das bedeutet, dass dort, wo Nutrias auftauchen, auch der Bisambestand erst einmal deutlich zunehmen kann, mit allen damit verbundenen Problemen. Aus diesem Grund erwägt man auch in Deutschland, die Jagd auf die Nutria zu liberalisieren.
Häufige Fragen
Darf man Nutrias füttern?
Ob die Fütterung von Wildtieren in der Stadt erlaubt ist, hängt von der jeweiligen regionalen Gesetzgebung ab… und wie heißt es leider so schön: Wo kein Kläger, da kein Richter. Hier in Leipzig z. B. kann man regelmäßig gemütliche Omas dabei beobachten, wie sie summend ganze Einkaufstüten mit trockenem Brot und Gemüseabfällen ans Ufer kippen und sich dann über die Scharen von Nutrias freuen, welche sich darüber her machen.
Die bessere Frage lautet jedoch, ob man das überhaupt tun soll. Und hier gleich die Antwort: bitte nicht!
Nutrias gelten, wie oben bereits ausgeführt, als Schädlinge. In großer Zahl beschädigen sie die für andere Tiere so wichtige Ufervegetation. Ihre massive Grabtätigkeit sorgt für zusätzliche Baumaßnahmen des Menschen, die wiederum ihrerseits dazu geeignet sind, empfindlichere Tiere zu stören und zu vertreiben. Mit der Fütterung der Tiere heizt man die Populationsexplosion weiter an, zu Ungunsten der Gewässerökologie.
Der zweite Grund, Nutrias nicht zu füttern, ist die Tatsache, dass die meisten Leute, biologisch betrachtet, falsch füttern. Zwar gibt es bisher keinen Hinweis darauf, dass die Unmengen von Brot, die man Nutrias in die Schnauze schiebt, für diese Tiere schädlich wären, aber man muss sich darüber im Klaren sein, dass man eben nie nur Nutrias, sondern immer das komplette Ökosystem füttert! Stockenten und Schwäne, welche zwischen den Nutrias nach dem Brot angeln, können mit der aufquellenden Backware im Magen sehr wohl gesundheitliche Probleme bekommen und Schaden nehmen. Außerdem führt eine starke Tierfütterung am Gewässer zu einer deutlichen Steigerung der Kotmenge im Wasser, also zu einer Düngung. Was wiederum die Veralgung des Gewässers fördert und letztendlich zur Entsättigung mit Sauerstoff führt. Intensive Wildtierfütterung, insbesondere an stehenden Gewässern, kann diese zum gefürchteten „Umkippen“ bringen.
Kann man Nutrias streicheln?
Mancherorts werden Nutrias durch die regelmäßige Fütterung derart zahm, dass die Versuchung, die Hand nach ihnen auszustrecken, keine geringe ist. Und, zugegeben: gerade die ganz Kleinen sind unfassbar niedlich. Doch bevor ihr dies tut, schaut doch bitte mal der nächstbesten Nutria direkt von vorne ins Gesicht und bewundert diese gigantischen, dunkelgelben Nagezähne. Und dann meditiert darüber, wie diese Hauer den ganzen Tag lang im veralgten Gewässer, im Uferschlamm, im Fell anderer Nutrias und im verschimmelten Resteessen besagter Oma wühlen. Der Biss eine Nutria ist eine Bakterienschleuder allererster Güte und wer Nutrias streicheln will, sollte nicht nur für Pflaster, sondern auch für eine aktuelle Tetanus-Impfung sorgen. Oder es doch besser gleich lassen.
Ist es in Ordnung, Nutriapelz zu kaufen?
Nach wie vor wird Nutriapelz verkauft, und längst nicht alles davon ist antike Vintage-Ware. Im Internet kann man neue Pelzjacken und Pelzmäntel erstehen und auch in der Mittelalter- und Larphändlerszene tauchen immer wieder einzelne Nutriafelle auf, die von den Leuten zur Aufpeppung ihre „Gewandungen“ verwendet werden können. Favorisiert man eine vegane Lebensweise, hat sich die Frage nach der ethischen Legitimation dieser Tiernutzung sowieso komplett erledigt.
Aber auch Leute, die mit beruhigtem Gewissen Nutria-Felle erwerben wollen, weil die Tiere z. B. in den USA, den Niederlanden und in Frankreich als Schädlinge gejagt werden, sollten vor dem Kauf zweimal nachdenken. Denn erstens kennt man in der Regel keineswegs die Herkunft des Fells, und in Russland und anderen (geografisch) osteuropäischen Regionen ist die Nutriazucht inkl. des Exports tatsächlich noch ein existierendes Geschäft. Man weiß also selten, ob man nun wirklich den aufrichtigen Jäger unterstützt, oder nicht eher eine Pelzfarm im Baltikum. Zweitens ist die (kommerzielle) Jagd grundsätzlich nicht dauerhaft dazu geeignet, ökologische Probleme zu lösen, die der Mensch verursacht hat.