Eine Reise nach Venedig lässt einen zunächst an Gondeln und Kanäle denken, an großartige Architektur des Hochmittelalters, der Renaissance und des Barock und, wenn der Gedanke Richtung Museen geht, dann zum weltgrößten Wandgemälde Tintorettos im Dogenpalast bis hin zur berühmten Kunstsammlung der Peggy Guggenheim. An ein naturhistorisches Museum denkt kaum jemand… Aus diesem Grund erntet man auch oft erstaunte Blicke bei der Ankündigung des Plans, bei einem Venedig-Urlaub dem Naturkundemuseum einen Besuch abstatten zu wollen. Venedig hat ein Museum für Naturkunde?
Oh ja! Und was für eines!
Das Gebäude – Ein Palast gerät an die Wissenschaft!
Schon aus reiner Gewohnheit erwarteten wir ein semimodernes Gebäude mit einer etwas verstaubten, vielleicht aus den 80er Jahren stammenden Ausstellung, die uns ein Konvolut an zoologischen, etwas schief geratenen Präparaten in alten Vitrinen präsentiert. Dies alles auf einer recht überschaubaren Menge an Quadratmetern – eine Standardsituation eben, wie sie sich leider in vielen Naturkundemuseen immer wieder finden lässt. Schließlich ist Naturgeschichte für liquide Touristen deutlich weniger sexy als hochkarätige Kunst, vor der sich gut ein Angeber-Selfie schießen lässt. Aber nein, wir wurden eines anderen belehrt.
Nähern Besucher*innen sich gassenseitig dem Museum, so finden sie den Haupteingang in einem kleinen, verborgenen Hinterhof vor, der erst mal recht unscheinbar aussieht.
Die zum Canal Grande ausgerichtete Fassade des Museums hingegen spricht eine völlig andere Sprache: Wir befinden uns in einem der ältesten Palazzi Venedigs, dem „Fontego dei Turchi”, dessen Geschichte bis ins Jahr 1225 zurück reicht. Erbaut von der Familie Pesaro, ging der Palast 1381 durch Verkauf in städtischen Besitz über und erlebte daraufhin ein langes Hin- und Hergeschiebe zwischen der Stadt und diversen privaten Eigentümern. Lange Zeit diente der weiße Palazzo mit seiner herrlichen Säulenterrasse und der bleiverglasten Wandelhalle als Domizil für hochrangige Reisende, unter ihnen sogar Päpste und Kaiser. Die Stadt kassierte dabei satte, noch heute mit Belegen nachweisbare Mieten und verdiente gut. Ende des 16. Jahrhundert war der Palazzo zur Zeit des großen Venezianerkrieges kurzfristig Flüchtlingsheim, dann wurde er ein Handelskontor für ausländische Händler, schließlich diente er als Wohnhaus für betuchte Mieter. Anfang des 19. Jahrhunderts übernahm ein Investor den Palast und sanierte das Gebäude gegen den Widerstand der Stadt und mit der damaligen ahnungslosen Brutalität gegenüber kunsthistorischen Schätzen von Grund auf. Zwei Drittel wurden bei diesen Arbeiten niedergerissen und historisierend wieder aufgebaut. Diesem Prozess fiel auch die ursprüngliche Fassade zum Opfer.
Die neue, uns heute bekannte Fassade, ließ er anschließend mit dem damals zeitgemäßen Türmchen- und Romantik-Schick ausgestattet neu auferstehen. Der Einzug des Grundstocks wissenschaftlicher Sammlungen fand Ende des 19. Jahrhundert statt, seit 1920 ist das Naturhistorische Museum als Institut mit öffentlichen Ausstellungen verzeichnet.
Die Sammlungen – mediterraner Heimathafen Forschender und Reicher
Venedig war schon immer, bedingt durch seine Handelsgeschichte und seine Weltoffenheit, ein Schmelztigel für Wissenschaften, wissenssammelnde, neugierige Reisende und exzentrische Geldsäcke. Dies spiegeln auch die venezianischen Sammlungen wieder. Historische naturwissenschaftliche Sammlungen sind in fast allen Fällen das Fragment einer weitaus größeren Kollektion, die sich aus wild zusammen gewürfelten ethnologischen, archäologischen und naturwissenschaftlichen Artefakten zusammensetzt, und die in der Aufklärung, meist im 18. Jh, manchmal auch früher, von ersten reichen Sammler*innen und Forschungsreisende*n zusammen getragen wurden. In Venedig übernahm dies der 1750 geborene Teodoro Correr. Der adelige Abt war finanziell in der Lage, wahllos und beliebig bei Händlern und pleite gegangenen Adelsfamilien zuzugreifen und hortete alle ergatterten Sammlungsschätze – Bücher, Inkunabeln, Gemälde, aber auch naturwissenschaftliche Objekte – in seinem Haus. Correr ahnte von Anfang an um deren wissenschaftlichen Wert. Anstatt, wie andere seiner Zeit, bei gesellschaftlichen Anlässen lediglich mit den „Kuriositäten“ zu prahlen, bemühte er sich sehr seine Sammlung öffentlich und vor allem Forschenden für Studienzwecke zugänglich zu machen. 1830, einen Monat vor seinem Tod, stiftete er alles der Stadt Venedig und legte damit den Grundstock des heutigen Museums.
Zahlreiche Sammelnde und Wissenschaftler*innen haben seitdem an den Sammlungen gearbeitet, sie sortiert, unterteilt und weitere Fragmente hinzu gefügt. Schwerpunkt ist die adriatische Fauna und Flora, aber auch bei Sammlungsbeständen zu überregionalen Themen brauchen venezianische Naturwissenschaftler*innen sich nicht zu verstecken. Heute beherbergt das Museum u.a. eine der weltgrößten Sammlungen der Hymenoptera (Hautflüger, z.B. Bienen, Ameisen) und mit über 28.000 Exponaten die größte und am besten erhaltene Pilz-Sammlung Italiens, die zur Entdeckung rund 300 neuer Arten führte. Außerdem finden sich hier zahlreiche historische, auf Anfang des 18. Jh. zurückzudatierende Herbarien und im Bereich der Zoologie bedeutende malakologische (Weichtiere, z.B. Muscheln) und ornithologische (Vögel) Sammlungen. Auch die Geowissenschaften sind mit Mineralien-, Gesteins- und Fossiliensammlungen gut vertreten. Kollektionen zu Wissenschaftsgeschichte, Anatomie, Ethnographie und Paläo-Ethnographie runden das Bild zu einem Juwel unter den Wissensarchiven ab und machen das wissenschaftliche Erbe des venezianischen Naturkundemuseums einzigartig und unbedingt schützenswert.
Forschung heute – Venedig und die Adria
Eine bestehende, wissenschaftliche Sammlung erlaubt aktive Forschung. Am Museo di Storia Naturale findet die aktuelle Forschung mit regionalen Schwerpunkten zu Neobiota (pflanzliche und tierische Einwanderer) und Umweltentwicklung in der Lagune statt. Auffällig und positiv anzumerken ist hierbei, dass aktuelle Projekte Ansätzen zu Open Data und Citizen Science äußerst aufgeschlossen sind – es steht also keinesfalls ein Elfenbeinturm der Wissenschaft am Canal Grande.
Als ein Beispiel sei das Projekt „Birds in the City” zu nennen. Dieses hat zum Ziel, ein Monitoring aller Vögel Venedigs und des venezianischen Umlands durchzuführen. Interessierte Laien sind ausdrücklich eingeladen, sich mit Bildnachweisen zu beteiligen.
Ein weiteres Beispiel ist das allseits bekannten Eichhörnchen (Sciurus vulgaris). Es ist kaum zu glauben, dass es bis Anfang 2000 in der venezianischen Ebene, insbesondere in Venedig, nicht vorkam. Seine plötzliche Ausbreitung wurde im Projekt „Atlante dei mammiferi del Veneto” dokumentiert – nun wird der knuffige Neozoon in einem neuen Projekt überwacht und gezählt. Neben den tätigen Wissenschaftler*innen und den in Parks installierten Kamerafallen sind auch Besucher und Bürger gefragt, die ihre Beobachtungen online auf der Seite iNaturalist / lo-scoiattolo-a-mestre einschicken können. Solltet ihr also mal ein Eichhörnchen in Venedig sehen – fotografiert es bitte, notiert euch Datum und Uhrzeit und nehmt damit aktiv an Forschung teil.
Die Ausstellung – Szenografie und Didaktik in Perfektion!
Die Dauerausstellung des venezianischen Naturkundemuseums ist noch relativ neu. Sie wurde 2011 bei einer Renovierung des Museums komplett neu konzipiert und gehört zu den besten, die wir jemals gesehen haben. Eine gute Besucherführung, perfekte Beleuchtung und Inszenierung einzelner Objekte, Einladung zur Interaktion auch für die kleinen Besucher*innen und der mutige, aber dezente Einsatz neuer Medien und Techniken, die didaktische Zwecke verfolgen und nicht der Eigendarstellung dienen, überraschen und machen wirklich Spaß. Es ist der Szenografie wirklich anzusehen, dass die Ausstellungsdesigner*innen Freude an der Thematik hatten und, in enger Zusammenarbeit mit Kurator*innen und Wissenschaftler*innen, eine ästhetische, wie inhaltlich gehaltvolle Ausstellung entwickelt haben. Der einzige Nachteil für Touristen: Alle Inhalte sind ausschließlich auf Italienisch, was bei der Perfektion der Ausstellung doch sehr verwundert. Immerhin sind bilinguale Ausstellungen mittlerweile Standard. Nun denn, ich empfehle zur Lösung dieses Problems, die App des Google-Übersetzers zu installieren. Texte lassen sich so mit der Handykamera scannen und in die eigene Sprache übersetzen. Die Google-KI funktioniert mittlerweile auch wirklich gut, so dass der Sinn nicht verloren geht.
Beim Betreten des Museums empfängt einen zugleich im Atrium des Palazzos das beeindruckende Skelett eines Pottwals unter dem der wirklich geringe Obolus von 8 € (für Erwachsene) bezahlen darf. Ein Leitsystem schickt die Besucher durch ein wunderschön gestaltetes Treppenhaus hinauf in den ersten Saal.
Der Ausstellungsrundgang:
Zu Beginn der Publikumsrenner: Dinosaurier!
Dinosaurier sind in jedem naturhistorischen Museum DER Kassenschlager schlechthin. Und so beginnt auch hier die Dauerausstellung mit dem Lieblingsthema „Urzeitriesen”. Der erste Saal beschäftigt sich allgemein mit dem Finden und Erfoschen von Fossilien und insbesondere mit der Grabung Giancarlo Ligabues in westafrikanischen Niger im Jahre 1973, bei der ein Dinosaurier aus der Gruppe der Iguanodontia, der Ouranosaurus nigeriensis gefunden wurde und das 11 Meter lange, wirklich gigantische Riesenkrokodil Sarcosuchus imperator. Beide Riesen sind hier in Lebensgröße zu bestaunen. Die nachfolgenden, etwas kleineren Ausstellungsräume führen mit vielen Hands-on-Objekten und Details zum Finden und Entdecken durch die Erdzeitgeschichte und stellen die Entwicklung des Lebens dar bis hin zum frühen Menschen.
Kontroverses: Sammlungs- und Forschungsgeschichte
Nach diesen Räumen gibt es einen thematischen Schnitt. Die Besucher*innen werden nun in die Geschichte der Sammlungs- und Forschungstätigkeit eingeführt. Was hierbei wirklich bemerkenswert ist: Verschweigen viele Naturmuseen und Zoos gerne ihre oft wenig kleidsamen Wurzeln, die im Schattenreich des Kolonialismus, Rassismus und gedankenlosen Raubes von Kulturartefakten fest verankert sind, geht das Museo di Storia Naturale damit offen um und lädt mit seiner Szenografie zur Diskussion ein. Jeder einzelne der drei Säle befasst sich mit einem historischen Reiseforscher, der maßgeblich zu den Sammlungen beigetragen hat: Giovanni Miani (1810–1872), Giuseppe Reali (1877–1937) und Giancarlo Ligabue (1932–2015). Besonders beeindruckend hier ist im zweiten Saal ein kleiner Nebenraum voller Trophäen und Präparate, die einem die wahllose Plünderung ohne viele Worte, einfach anhand der Masse der Exponate erschütternd vor Augen führt.
Eine kleine Wunderkammer, in der frühe Sammlungsstücke nicht nach wissenschaftlichen Kriterien, sondern nach ästhetischen Gesichtspunkten arrangiert sind, schließt das Thema farbenfroh und äußerst wunderlich ab. Anschließend betreten die Besucher*innen den wohl schönsten Raum des Palazzos: Die mit zum Canal Grande in großen Butzenscheiben verglaste Wandelhalle, in der das Thema „Wissenschaft im Museum” behandelt wird. Hier begegnen wir Theodore Correr und anderen wichtigen Persönlichkeiten, die Geschichte geschrieben haben, indem sie die Sammlungen gesichert, geordnet, bearbeitet und fortgeführt haben. Hier finden sich auch Vitrinen mit einem Auszug historischer Sammlungsbestände, das in meinen Augen besondere Ausstellungsstück, zu dem ich später noch kommen werde.
Ein bisschen wie Schule, nur schöner: Allgemeinwissen zur Naturkunde
Mit diesem Saal ist Forschungs- und Wissenschaftsgeschichte abgeschlossen. Es gibt einen neuerlichen thematischen Schnitt. Die Dauerausstellung befasst sich nun mit den Wissensgrundlagen der Naturkunde und den Strategien des Lebens. Sicher ist dieser Bereich grade für Schulklassen besonders gut geeignet, aber auch Erwachsene finden hier eine Menge an Informationen, die entweder im Laufe der Jahre verloren gegangen sind oder die nie vermittelt wurden. Mal ganz abgesehen davon, dass auch dieser Ausstellungsbereich mit einer wirklich unglaublichen Schönheit und Liebe zum Detail besticht. Der Ausstellungsbereich beginnt mit einer media-interaktiven Installation in einer Kammer, an deren Wänden man sich selber Netzwerke und naturwissenschaftliche Zusammenhänge erspielen kann. Die nachfolgenden Räume befassen sich dann mit Fortpflanzungs- und Überlebensstrategien, mit den Arten der Fortbewegung zu Lande, im Wasser und in der Luft und mit dem evolutionär bedingten Erfindungsreichtum der unzähligen Arten eine Energiezufuhr zu gewährleisten.
Aus der Dauerausstellung treten die Besucher*innen nun in ein zweites Treppenhaus und begeben sich wieder ins Erdgeschoss. Hier gibt es noch die Möglichkeit einen Blick in ein etwas stiefmütterlich behandeltes Schauaquarium zu werfen, dem einzigen, leider viel zu kleinen Bereich der Ausstellung, der sich mit aktuellen, regionalen Projekten in der Lagune beschäftigt. Nach einem Spaziergang im Wandelgang am Atrium entlang unter dem gigantischen Skelettes eines weiteren Wals, einem Finnwal, gelangt man dann schließlich wieder ins Foyer und kann hier noch ein wenig durch den kleinen Museumsshop stöbern (Anm.d.Autorin: Zum Zeitpunkt 09/2020 war der Museumsshop wegen Umbau leider geschlossen).
Das besondere Ausstellungsstück
Das Museumslogo zeigt eine Möwe, die einen Fisch fängt und möchte damit sicher seinen regionalen Bezug visuell stärken. Von aktueller Forschung, obwohl vorhanden und sehr aktiv, ist in der Dauerausstellung leider aber wenig zu sehen. Die Sammlungs- und Forschungsarbeit der letzten drei Jahrhunderte hingegen wird sehr ausführlich dargestellt und macht einen großen Teil, mindestens ein Drittel, der Dauerausstellung aus. Deshalb findet sich meines Erachtens das besondere Ausstellungsstück (oder in diesem Fall das Alleinstellungsmerkmal) im krönenden Abschluss dieses Themenbereiches: im Saal „ Museum und Wissenschaft – Der Wandel vom Kuriositätenkabinett zum Wissenschaftsmuseum”.
Die Vitrinen auf der rechten Seite unterteilen sich in die Forschungsbereiche Etnologie, Mineralogie, Paläontologie, Vergleichende Anatomie, Theriologie, Ornithologie, Ichthyologie, Entomologie, Meeresbiologie und Botanik. Was auf dem ersten Blick wahllos aussieht, hat System. Allein die vergleichende Anatomie füllt sechs der Vitrinen – jedes einzelne Exponat ist ein Kunstwerk für sich. In diesem Saal lässt sich stundenlang stehen und immer wieder Neues entdecken. Schade dass die Wendeltreppe, die auf eine Empore mit noch weiteren Vitrinen führt, Besucher*innen verwehrt ist.
Nerd-Fazit: Magnificamente!!!
Das naturhistorische Museum Venedigs, so müssen wir erstaunt feststellen ist, obwohl die Stadt vor allem für ihre kunsthistorischen Aspekte bekannt ist, eines der bestkuratierten Museen mit herausragender Ausstellungsdidaktik und Szenografie (mit Ausnahme des Sprach-Fails…). Eine derart professionelle und gute Ausstellung findet man in kaum einen der anderen großen Museen Venedigs. Wir sind begeistert!
Also: Geht hin! Geht hin!
Hardfacts / Besucherinformationen:
Wo: Santa Croce 1730, 30135 Venedig
Öffnungszeiten (Stand 09/2020):
Werktags geschlossen
Fr – So: 11.00 – 17.00 Uhr
Eintritt:
Regulär: 8,00 €
Ermäßigt: 5,50 €
Frei für Venezianer*innen, Kinder von 0-5 Jahren, Behinderte mit Begleitperson
Sprache der Ausstellung:
Ausschließlich Italienisch. An der Kasse gibt es ein englisches Handout mit Basisinformationen zum Museum.
Wir empfehlen die google-Übersetzer-App, mit der sich Texte fotografieren und direkt übersetzen lassen.
Barrierefreiheit:
Das Museum besitzt einen Aufzug, die Ausstellungen sind Rolligerecht. Unter diesem Link auf meineadria.com gibt es außerdem Karten mit Strecken in Venedigs Innenstadt, die mit dem Rollstuhl gut zu meistern sind. Die Vaporettos, die venezianischen Wasserbusse, sind ebenfalls barrierefrei.
Website des Museums:
Museo di Storia Naturale di Venezia
Frei für Venezianer… Die die sind uns weit voraus