Das urbane Wildtierleben ist ein fast ebenso spannendes Thema, wie jenes in weitestgehend unberührter Wildnis. In deutschen Städten und Stadträndern nehmen wir mittlerweile Wildschweine, Rehe, Füchse, Reiher, Falken, Waschbären und vielleicht sogar mal einen Wolf als reguläre Nachbarn wahr.
Wir sind rund um den Erdball nach Zentralamerika gereist. Unser Ziel ist der Regenwald Costa Ricas, aber die Reiselogistik verlangt uns einen Kurzaufenthalt in Costa Ricas Hauptstadt San José ab. Und da wir nicht gerne untätig herumsitzen fragen wir uns: Wer lebt, liebt, frisst und schläft wohl zusammen mit und neben den Menschen dieser Stadt? Welches Federvieh, welcher Vier-, Sechs-, Acht- oder Nullbeiner prägt das tägliche Stadtleben?
Schon am ersten Abend, direkt nach unserer Ankunft, machen wir uns auf einen Spaziergang durch das nächtliche Wohngebiet in dem unser Hostel liegt. Es ist ein bisschen schwierig sich nicht mit Jetlag-Dusel im Kopf und all den neuen Eindrücken, Geräuschen und fremden Gerüchen gleich in den schon recht verwaisten Gassen zu verirren. Zwar zeigt die Uhr erst auf 9, aber Ticos gehen offensichtlich recht früh zu Bett oder ziehen sich zumindest in ihre gut vergitterten Häuser zurück. Wir haben die Straßen fast für uns, schlendern zu einem kleinen Supermarkt, bewaffnen uns jeder mit einer Flasche regionalen Biers und gucken dann mal so, was uns begegnet.
Krabbelkrabbel…
Der Fußweg gehört uns offensichtlich nicht alleine. Neben unseren Füßen die Mauer entlang tut sich Emsiges: Kleine Blattschnippsel wandern in einer langen Linie hinter uns her. Wir hatten mit Blattschneiderameisen eigentlich erst im Regenwald gerechnet, aber es gibt sie auch hier an jeder Straßenecke.
Welche von den rund 40 Arten hier nun Blätter und Blüten an uns vorbei schleppt, um irgendwo in der Tiefe auf ihnen Pilze zu kultivieren, wissen wir ohne Recherche nicht, aber wir haben einen Heidenspaß ihnen bei ihrer Arbeit zuzusehen.
Eine Straße weiter begegnen wir einem alten Bekannten: Hemidactylus frenatus. Eigentlich lebt der „Gewöhnliche Halbfinger“ in Südostasien, aber der Mensch hat ihn auf seinen Reisen in der ganzen Welt verteilt. Und so findet man den kleinen, zwischen 6 bis 13 cm langen Hausgecko nun auch in Mittelamerika.
Und natürlich gibt es Kakerlaken. Wir finden eine besonders freche, die sich leicht fangen lässt und gleich mal mit einem Highfive gemeinsam mit uns den ersten Abend in Costa Rica feiert…
Vögel bekommt der Normalsterbliche in San José nachts eher nicht zu sehen. Dazu heißt es sich gedulden und auf den nächsten Morgen warten. Aber kaum zeigt sich erstes Dämmerlicht, wird es in den Bäumen und auf den Dächern der Großstadt richtig laut. Geweckt werden wir von einem recht bekannten Geräusch, dem Gurren einer Taube. Jedoch handelt es sich bei der San Joséer Stadttaube nicht um unsere Columba livia f. domestica, sondern um die etwas kleinere Weißflügeltaube (Zenaida asiatica), die im Gegensatz zu unserer Taube hellbraun gefiedert und mit, dem Namen entsprechend, weißen Flügelspitzen ausgestattet ist.
Alles etwas bunter und echt laut!
Neben dem Ruf der Weißflügeltaube hören wir aber auch einige sehr ungewohnte Laute. Das macht uns neugierig und wir machen uns auf nach draußen, um ihrem Ursprung nachzugehen. Neben dem eher gewohnten Tschilpen und Zwitschern kleinerer, ziemlich farbenfroher Singvogelarten ertönt immer wieder ein recht seltsames Quietschen oder ein Pfeifen, als ließe man einem Luftballon langsam die Luft entweichen. Dann wieder gackert und kräht es, steigert sich zu komplexen Lautbögen und finalisiert in einem Ton, der verdächtig nach der Sirene eben jenes Polizeiautos klingt, das just an uns vorbei gerast ist. Wir machen, was uns anfangs verwirrt, zweierlei Quellen aus: Schwarze, blauglänzende Vögel mit hellen Augen und langen wippenden Schwänzen, die in ihrer Erscheinung ein wenig an die heimische Elster erinnern, sowie deutlich kleinere, braune Individuen. Verwirrend nur auf den ersten Blick, denn es handelt sich hier um ein und die selbe Vogelart, die aber einen deutlichen Geschlechtsdimorphismus aufweist: die Dohlengrackel (Quiscalus mexicanus), ein Vogel aus der Familie der Stärlinge. Sie ist in Nord-, Zentral- und Südamerika sehr verbreitet und als Kulturfolger und Nahrungsopportunist bei den Menschen manchmal mehr und manchmal weniger gern gesehen. Man sagt ihr die Fähigkeit nach, Stimmen anderer Vögel imitieren zu können. Der Verdacht liegt nahe, dass die San Joséer Dohlengrackel sich nicht allein auf tierische Laute beschränkt, sondern dass auch Ampelsignallaute, Handytöne oder eben besagte Polizeisirene als Inspiration für ihre Gesänge dienen. Unbedingt den Sound anstellen für den anschließenden Film:
Schlau soll sie sein, die Dohlengrackel. Man hat sie dabei beobachtet, wie sie Hunden das Trockenfutter aus den Näpfen klaut und die Brocken im Wasser einweicht, um diese besser fressen zu können.
San José ist in der Trockenzeit ein höllisches Tohuwabohu aus staubigen Straßen, niedrigen Häusern mit Wellblechdächern, viel zu viel Verkehr, noch mehr Menschen und jede Menge Lärm. Ein Tier jedoch schafft es all dies zu übertönen, ja regelrecht niederzukreischen. Auf einem der wenigen, etwas grüneren Plätze empfängt uns ein ohrenbetäubender Radau. Der gepflasterte Boden ist weiß vom Vogelkot. Über unseren Köpfen, hoch oben in den Baumwipfeln, haben Papageien das Zepter in der Hand. Unmöglich sie zu zählen – es sind wirklich viele – eine Großstadt innerhalb der Großstadt! Wir sind uns nicht sicher ob es sich um den endemischen Purpur-Sittich (Aratinga finschi) handelt. Diesen hätten wir eigentlich aufgrund unserer Vorrecherche hier erwartet. Die Kobolde hier über uns aber sehen mit ihren dunklen Schnäbeln eher aus wie Elfenbeinsittiche (Eupsittula canicularis).
Was die Lautstärke betrifft unterscheiden sich die Arten wahrscheinlich nicht. Noch mehr staunen wir, als wir zwischen all dem Gezeter einen ähnlich grünen Vogel entdecken, der sich aber bei genauerem Hinsehen von den anderen unterscheidet: Ja, dort sitzt tatsächlich eine Weißstirnamazone (Amazona albifrons). Für diese Vögel zahlen Liebhaber in Deutschland dreistellige Beträge – hier fliegt sie frei in den San Joséer Bäumen herum. Amazonen sind Nahrungsopportunisten und somit ebenfalls als Kulturfolger bestens gerüstet. Selbst in Deutschland gibt es stabile, urbane Populationen z.B. von Gelbkopfamazonen, die aus entflogenen Haustiervögeln entstanden sind. Es zeigt, dass diese Papageienart nicht nur in der Nahrungsaufnahme anpassungsfähig ist, sondern außerdem sich als äußerst robust erweist was ihren Anspruch an Umgebung und Klima betrifft.
Nah dran an der Weltherrschaft…
…sind die Waschbären. Wobei die pelzige Verkörperung des kleinen Neffen, der ja irgendwie ganz niedlich ist, aber trotzdem irgendwann nervt, hier in Mittel- sowie in Nordamerika seine ursprüngliche Heimat hat. Wir bekommen sie nicht zu Gesicht aber wir hören über sie, dass auch hier in San José die Waschbären Mülltonnen ausräumen, unschuldigen Katzen ihr Katzenfutter klauen und allerlei für sie lebensnotwendigen Unsinn anstellen. Und auch hier fallen die Einwohner auf die knuffigen Knopfaugen-Räuber herein. Im Vergleich zur Extra-Schüssel Katzenfutter, die weichherzige San Joséer dem Waschbär bereit stellen, rufen selbige Bürger immer noch den Notruf wenn sie Fledermäuse am Dach entdecken. Die Angst vor den vermeintlichen Blutsaugern (obwohl nur zwei der von insgesamt 120 in Costa Rica vorkommenden Fledermaus-Arten sich tatsächlich von Blut ernähren) ist größer, als die vor der Zerstörungslust der Kleinbären.
Erst vor ein paar Jahren, also recht neue Mitbewohner San Josés, sind die Bunthörnchen (Sciurus variegatoides) zugezogen. Nein, liebe Zamonien-Fans, keine Buntbären, aber ähnlich farbenfroh. Sie zeichnen sich durch einen großen Variantenreichtum in der Fellfarbe selbst innerhalb der Art aus. Eigentlich bevorzugen die tagaktiven Tiere Habitate, die aus verschiedenen Baum- und Gebüscharten mit Anteilen immergrüner Laubvegetation bestehen. Die städtische Bepflanzung jedoch scheint den Ansprüchen der Kleinsäuger entgegen zu kommen, so dass sie inzwischen überall zu beobachten, aber aufgrund ihrer Flinkheit nur schwer zu fotografieren sind. Deshalb müssen wir auf ein schöneres Bild von wikipedia zurück greifen:
Ein großes, grünes Rechteck im Herzen San Josés:
Der La Sabana Metropolitan Park
Mit seinen 72 Hektar (ca 72 Fußballfelder) ist der La Sabana der größte Park San Josés und dessen grüne Lunge, welche die Stadt auch dringend benötigt. Der Park beherbergt außerdem das Nationalstadion und andere Sportfakultäten. Seit einer Aufforstung vor sechs Jahren mit dem Ziel die florale Diversität im Park zu erhöhen, erfasst ein Artenzählungsprojekt mit dem engagierten Namen “Taxathon” nunmehr regelmäßig die Entwicklung der Fauna und Flora. Bei der letzten Zählung 2017 zeigte sich, dass dieses große grüne Areal sich stetig entwickelt und inzwischen das Zuhause von rund 347 weiteren Pflanzenarten, Säugetieren, Vögeln, Insekten und Weichtieren ist. Viele Tiere sind neu zugewandert und ein Indiz dafür, dass eine höhere Diversität der Flora zu mehr Artenvielfalt in der Fauna führt. Im Vergleich zu 2008, als man nur 13 Vogelarten im La Sabana zählte, hat sich die Anzahl der Vogelarten nun auf mehr als 100 erhöht.
Wir staunen bei unserem Spaziergang durch den Park ein wenig, wo sich all diese Vielfalt versteckt, denn der Laie sieht erst mal viel kahle Wiesenfläche mit einzelnen, teils noch sehr jungen Baumgruppen. Überwältigende Vielfalt sieht anders aus; einzig auffällig sind natürlich die Dohlengrackeln und verschiedene Arten von Enten. Allerdings besuchen wir den Park auch nicht bei Nacht und legen uns nicht gezielt auf die Lauer – dazu ist unser Aufenthalt in San José zu kurz.
Früher sollen auf dem Gelände, das bis 1974 noch ein innerstädtischer Flughafen war, sogar Neunbinden-Gürteltiere (Dasypus novemcinctus) gesichtet worden sein, aber das ist lange her. Ganz sicher findet man hier mit etwas Knowhow die gefürchtete, aber sehr friedliche Korallenotter (Micurus alleni), die sich gerne an Bächen und Teichen aufhält um kleine Amphibien zu jagen.
Für uns ist die Exkursion zu San Josés frei lebenden Wildtieren vorerst beendet. Wir kehren der Stadt den Rücken und begeben uns als nächstes in einen der letzten Primärregenwäldern der Welt, dem Corcovado.
Weitere Infos:
Zeitungsartikel über die Gelbstirnamazonenpopulation in Stuttgart-Bad Cannstatt
Zeitungsartikel zum Artenzählungsprojekt im La Sabana
Artikel der „La Nacion“ zum urbanen Wildtierleben in San José (auf spanisch)