Es ist noch unanständig früh am Morgen, als wir, immer noch nicht ganz wach und die Kühle der Nacht in unseren müden Knochen spürend, ein weiteres Mal das Moor durchwandern. Der Weg gleicht einer sehr schmalen Allee: Links und rechts stehen Bäume (in diesem Fall vor allem Kiefern und Birken), über uns wölbt sich ein dichtes Blätterdach und vor uns erzeugt ein gerade, mit Wurzeln und Moos bedeckter Weg eine sehr lange perspektivische Flucht über gut und gerne fünfhundert Meter. Jenseits der Baumwand zu beiden Seiten liegen kleine bis ziemlich große Moorlichtungen, teilweise noch im Morgennebel dampfend. Über dem Moor liegt jene verträumte Stimmung, die die Sonne erzeugt, wenn sie gerade noch hinter dem Horizont verborgen ist.
Da plötzlich ertönt oder besser schallt ein wirklich seltsamer Ruf durch die Landschaft: Eine Art voluminös-lautes Trompeten, dass zwischen den Waldrändern hin und her geworfen wird und lange nachhallt. Der erste Trompetenstoß wird sofort von einem zweiten beantwortet, nur einen Halbton höher.
Eine neblige Sumpflandschaft im Morgengrauen, fremdartige Echos… ich kann nicht anders und muss sofort an Jurassic Park denken. Ich denke an die gewaltigen Brachiosaurier, die ihre Hälse in den Himmel recken und sich gegenseitig etwas zutröten, während ein Pteranodon über ihnen in der Thermik kreist.
Natürlich weiß ich bereits, wer da ins Horn stößt, aber meine Dinosaurier-Assoziation ist gar nicht sooo falsch. Birte und ich verfallen in den Schleichmodus und gehen langsam und gebückt, das Fernglas im Anschlag. Und tatsächlich: auf der nächsten Lichtung erspähen wir durch die Bäume hindurch den Urheber der seltsamen Rufe.
Grus grus, der graue Kranich, gilt als Deutschlands größter – wenn auch nicht schwerster – Vogel und vertritt die einzige in Europa zu findende Kranichart. Ausgewachsene Tiere erreichen eine Standhöhe von 130 cm sowie eine Flügelspannweite von bis zu 245 cm und sind damit noch etwas größer als Störche. Die Lichtung, vor der wir uns niederhocken, ist wunderschön. Hier hat die große Dürre von 2018 noch etwas Wasser übrig gelassen und Nebel steigt in dicken Schwaden auf, während sich das erwachsende Sonnenlicht auf der Oberfläche spiegelt. Wir sehen drei Kraniche: Zwei Altvögel (erkennbar an der Schleppe) und ein flügges Jungtier. Wie sie da majestätisch im seichten Wasser umher stapfen, ihre langen Hälse biegen und wachsam umher spähen, sehen sie wirklich ein bisschen wie die Dinosaurier aus, die sie strenggenommen auch sind: Wer es noch nicht weiß: Vögel sind direkte Nachfahren der Maniraptora (kleiner, intelligenter zweibeiniger Raubsaurier) aus der Gruppe der Theropoden und damit um mehrere Ecken mit dem T-rex verwandt.
Kraniche sind Zugvögel und besuchen Deutschland auf dem „westeuropäischen Zugweg“ auf der Durchreise von Skandinavien und dem Baltikum weiter Richtung Südeuropa, insbesondere Spanien. Das Gebiet der Dübener Heide, besonders die beiden Moore, dienen den großen Vögeln als Rastplätze. Hier verbringen die Familienverbände mehrere Tage bis Wochen, balzen ein wenig herum, fressen allerhand tierische und pflanzliche Nahrung und wechseln mehrmals laut trompetend den Standort innerhalb der Landschaft.
Grus grus ist in Deutschland streng geschützt und der heilige Gral einheimischer „Birder“, das sind Hobby-Freaks, die sich auf Vogelbeobachtung spezialisiert haben und ziemlich nerdige Tagebücher führen, in die sie ihre Sichtungen eintragen: „10:34 Uhr: Gelbstichiger Schmutzfink, weiblich. Hinkt auf dem linken Bein“. Birding ist mehr als die rein handwerkliche Tätigkeit der Vogelbeobachtung und vor allem für Hobbisten aus dem anglikanischen Sprachraum Lebensgefühl und Teil der Citizen Science. Die ehrgeizige Variante des Birdings nennt sich „Twitching“ und es gibt sogar Weltmeisterschaften darin!
Unweit des Zadlitzbruchs am Wildenhainer Bruch steht, insbesondere wegen der Kraniche, eine erhöhte Beobachtungsplattform mit einer Menge kranichrelevanter Infotafeln (und einem der erwähnten Logbücher!). Dort waren wir gestern, haben aber keinen Kranich gesehen. Ich glaube, SO nah kommt man ihnen selten, denn die Fluchtdistanz beträgt ungefähr 250 – 300 Meter… das Jungtier dort drüben ist jedoch keine dreißig Meter von uns entfernt. Wir haben also unverschämtes Birding-Anfängerglück! Leider ist der Zoom meiner Sony Cybershot für solche Herausforderungen nicht geeignet: Sie ist stark bei Panorama- und Detailfotos, versagt aber auf die Distanz, weshalb ihr euch leider mit dem obigen Suchbild zufrieden geben müsst, sorry!
Wir können die Gruppe etwa eine Minute beobachten, bevor sie auffliegen. Wir wissen nicht, ob wir bemerkt wurden oder ob ein anderer See lockt. Jedenfalls hören wir die nächste halbe Stunde mehrfach das Trompeten verschiedener kleiner Kranich-Gruppen und sehen hin und wieder Tiere zu zweit oder zu dritt im Formationsflug über das Moor ziehen. Grandios!
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