Was mich ein Handkniff über die Evolution gelehrt hat
Strandspaziergänge in Costa Rica sind eine feine Sache, besonders bei Nacht! Nicht nur wegen des Romantikfaktors, den Birte und ich durchaus zu schätzen wissen, sondern weil man dann diejenigen Tiere dieses Lebensraums antrifft, die sich tagsüber wohlweislich verstecken. Eines davon raschelt gerade neben uns im Gebüsch!
Die Szenerie, die uns auf dieser Pirsch umgibt, ist berückend schön: Wir haben Neumond und nur der Schimmer einiger entfernter Yachten liegt auf dem Wasser. Ein kleiner Süßwasserstrom kommt von den mit Regenwald bewachsenen Hügeln, verzweigt sich am Strand und formt eine abwechslungsreiche Landschaft aus kleinen Minibächen im Sand. Schalten wir unsere Stirnlampen ein, sehen wir das Glühen der Augen zahlreicher Agakröten (die übrigens einen Höllenlärm veranstalten). Ein Blaureiher, der des nachts kleine Fische aus einem der Bächlein fängt, beäugt uns misstrauisch.
Doch zurück zum Rascheln neben uns im Gesträuch. Da hat sich soeben etwas Großes an mit Unkraut und toten Blättern bedeckten Wurzeln einiger Palmenstämme geregt… eine spinnenartige Bewegung unter braunen Palmwedeln. Ich mache den Terciopelo-Check (Anmerkung: Die Terciopelo ist eine Lanzenotter, die verbreitetste Giftschlange Mittelamerikas und aufgrund ihrer Tarnfärbung sehr leicht zu übersehen. Deshalb: Niemals ins Laub ohne Terciopelo-Check!), knie mich dann vorsichtig hin und hebe einige der faulenden Palmwedel an. Vor mir krabbelt träge und sehr geräuschvoll die größte Landkrabbe, die ich bis dahin gesehen habe. Ihr Carapax misst geschätzte 12 cm im Durchmesser, aber rechnet man die kräftigen Beine und vor allem die Scheren mit ein, ist das Tier so groß wie ein Suppenteller.
Trotz der kräftigen Färbung war die Krabbe auf den toten Palmwedeln recht gut getarnt, und von ihrer soeben erfolgten Enttarnung scheint sie nicht allzu erbaut zu sein, denn sie zieht sich weiter ins Wurzelwerk zurück. Ich beschließe, das robuste Tier für ein genaueres Studieren hervor zu holen. Der Trick, eine große Krabbe hochzunehmen, ohne gekniffen zu werden, besteht darin, den Carapax beidseitig oberhalb der Beine zu greifen. Was ich natürlich vergesse und verdientermaßen einmal ordentlich gekniffen werde.
Ein amüsiertes Aua später setzen wir die Krabbe einige Meter entfernt in den Sand, wo sie sich schnell wieder beruhigt und uns Modell steht. So können wir ihre erstaunliche Anatomie etwas genauer betrachten.
Kevin ist Linkshänder
Wir nennen „unsere“ Landkrabbe Kevin, nach einem sehr wehrhaften und robusten Freund. Kevin hat, wie alle Krebstiere zehn Füße, zwei Komplexaugen und zwei Scheren, wo wir auch gleich beim ersten spannenden Science-Thema wären: Was uns an Kevin nämlich sofort auffällt, ist, dass die linke Schere sehr viel massiver und größer ausgeprägt ist als die rechte, die dagegen regelrecht unterentwickelt wirkt. Mit dieser sehr massiven Schere hat Kevin mich soeben gekniffen und auch beim Wandeln über den Sand und beim Manipulieren von Hindernissen scheint er sie lieber zu verwenden als die linke. Kevin ist offensichtlich Linkshänder, äh… „Linksscherer“.
Diese linke Schwere ist dabei nicht nur ein einfach größeres Spiegelbild der rechten, sondern weist auch eine andere Bezahnung auf, was auf eine eigene Spezialisierung deuten lässt. Eine kurze Internetrecherche ergibt später, dass diese Spezialisierung nicht auf die linke Seite beschränkt ist: Im Web finde ich sowohl Fotos von Krabben mit einer linken sowie einer rechten vergrößerten Schere. Auf Fotos von größeren Ansammlungen von Landkrabben scheinen beide Variationen vertreten zu sein, regionale Geenpools spielen hier also anscheinend keine große Rolle.
Nun aber zur eigentlichen Frage: Wozu das Ganze? Warum manche Krebstiere (u.a. diverse Krabben- und Hummerarten) unterschiedliche Scheren entwickelt haben und andere (z.B. die allermeisten Garnelen, Flusskrebse, aber auch viele Krabben), wurde bisher erstaunlich wenig untersucht. Das bekannteste und am besten untersuchte Beispiel sind die Winkerkrabben, aber vergleichende, Spezies-übergreifende Studien, die Rückschlüsse auf allgemeinere evolutionäre Vorgänge möglich machen, sind selten.
Ein Beispiel für eine solche Studie möchte ich hier verlinken:
“Dimorphism and the functional basis of claw strength in six brachyuran crabs” ist ein sehr komplexes Paper, es geht unter anderem um den Unterschied zwischen „Force“- und „Stress-gradients“ und weist mehr als eine statistische Hürde auf, die der Leser zum Verständnis nehmen muss.
Kurz zusammengefasst untersucht die Arbeit die Biomechanik mehrerer Arten und legt nahe, dass die Aufteilung der beiden Scheren in einen „Crusher“ und einen „Cutter“ eine Art Spezialisierungskompromiss darstellt: Ein starker Crusher ermöglicht das Knacken hartschaliger Beute und verschafft dem Besitzer Vorteile im Kampf um Nahrungsressourcen. So viel Muskelmasse kostet jedoch Energie, und da man jedoch zum Knacken… sagen wir: einer Muschel im Grunde nur einen Crusher benötigt, konnte die andere Schere evolutionsbedingt klein bleiben und Präzisionsaufgaben wie das Zerteilen und zum-Mund-führen der Nahrung übernehmen. Außerdem scheint die Entwicklung vergrößerter Scheren einer gewissen sexuellen Evolution zu unterliegen, denn Krabbenmännchen neigen speziesübergreifend dazu, um die Gunst der Weibchen zu kämpfen. Viele Arten halten dabei ritualisierte Zweikämpfe ab, bei denen sie sich mit der vergrößerten Schere bedrohen (wie die Winkerkrabben) und gegenseitig wegschieben. Ein weiterer Hinweis auf diese sexuelle Evolution ist der erkennbare Geschlechtsdimorphismus bei vielen Krabben, auch unserer Landkrabbe hier: Männchen sind im Durchschnitt größer als die Weibchen, was sehr oft ein evolutionärer Hinweis darauf ist, dass Männchen um Weibchen buhlen und kämpfen, wobei die größeren, stärkeren Tiere höhere Fortpflanzungschancen haben und sich die für die entsprechende Morphologie zuständigen Gene auf Dauer durchsetzen. Und letztendlich dient der Crusher auch Verteidigungszwecken, wie ich soeben schmerzhaft lernen durfte…
Der blaue Gigant
Cardisoma guanhumi ist der Schlauname dieses beeindruckenden Gesellen. Der deutsche Trivialname lautet „Blaue Landkrabbe, im englischen wird sie als „Blue Land Crab“ oder „Giant Land Crab“ geführt. Der Begriff „Landkrabbe“ zeugt dann auch vom Umstand, dass wir das Tier nicht im Wasser, sondern an Land antreffen, denn Cardisoma guanhumi lebt einen Großteil des Jahres über terrestrisch und kann dabei durchaus mehrere Kilometer weit ins Landesinnere vordringen.
Da sie nicht über eigentliche Lungen, sondern über modifizierte Kiemen verfügen, sind sie nach wie vor auf Feuchtigkeit angewiesen und meiden die Hitze und Trockenheit des Tages. Diesen verbringen sie dann lieber in tiefen, selbst gegrabenen Erdlöchern, von denen wir viele in den unterschiedlichsten Größen an den Erdhängen im und am Wald rund um die Drake-Bucht finden. Nachts kommen sie dann hervor und durchstreifen das nahe Unterholz auf der Suche nach Nahrung. Dabei sind sie nicht sehr wählerisch; die blauen Landkrabben sind Allesfresser. Totes Laub und heruntergefallene Früchte sind ihnen genauso recht wie Insekten und Aas, wobei sie als Kannibalen auch vor kleineren Artgenossen nicht Halt machen. Auch Essensreste und menschlicher Unrat ist ihnen nicht zuwider, weshalb blaue Landkrabben in manchen Ländern Kulturfolger sind und dort als Schädlinge gelten, unter anderem auch deshalb, weil sie in größeren Scharen mit ihrer Grabtätigkeit die ordentlichen Rasen US-amerikanischer Südstaatengärten zerstören.
Apropos Kultur: die kulinarische Interaktion zwischen Mensch und C. guanhumi ist keineswegs eine Einbahnstraße, denn die Krabbe wird durchaus auch als Speise geschätzt. In Puerto Rico hat dies bereits zu einem drastischen Rückgang der Population geführt und zieht inzwischen Schutzmaßnahmen inkl. gesetzlicher Regulationen nach sich.
Ganz unabhängig vom Wasser sind auch Landkrabben nicht. C. guanhumi benötigt die See zur Fortpflanzung und einmal im Jahr, hier in Costa Rica während der ersten heftigen Niederschläge zu Beginn der Regenzeit, fressen sich die Tiere Gewicht an und paaren sich und machen sich während einer mehrwöchigen Migrationsperiode auf dem Weg zur Küste. Die befruchteten Weibchen steigen zurück ins Meer, legen dort ihre Eier ab, wo sie sich selber überlassen werden. Frisch geschlüpfte Krabbenlarven durchlaufen ein frei schwimmendes Stadium und erst nach diversen Häutungen und einige Monate später entsteigen kleine Minikrabben dem Meer und ziehen über den Strand Richtung Küstenwald. C. guanhumi wächst langsamer als andere Arten und wird erst nach ca. fünf Jahren geschlechtsreif, lange vor Erreichen der Größe „unserer“ Krabbe.
Kevin muss also schon einige Jährchen und mehr als 50 Häutungen auf dem Buckel haben. Er ist ein echter Senior… wie viele Regenzeiten er (oder sie?) wohl schon gesehen hat? Zum Essen ist dieses beeindruckende Tier auf jeden Fall viel zu schade! Wir setzen es also zurück an seine Palmwurzel, wo es uns noch einige Weile lang facettenäugig anstarrt.
Tschüss, Kevin! Mögen du und deine Nachkommen noch lange linkshändig diesen unberührten Strand patroullieren!