Auf der Suche nach einem Lebewesen, das Urwaldriesen zu Tode strangulieren kann
Stellt euch vor, ihr umarmt einen richtig großen, alten Baum. Ja, ich weiß: das machen sonst nur Elfen und Esoteriker, aber stellt es euch trotzdem vor. Und nun drückt in Gedanken ganz fest zu, bis er abstirbt. Das klingt nun nicht mehr ganz so elfenmäßig, außerdem ist die Vorstellung reichlich absurd, weil unrealistisch. Und doch gibt es ein Wesen, das in der Lage ist, mittels monströser Kräfte selbst die größten, ältesten und stärksten Bäume des Urwalds zu erdrosseln!
Als Birte und ich dieser Bestie begegnen, befinden wir uns in Costa Rica und streifen durch den tropischen Regenwald. Dieser ist im Süden des Landes auf der Halbinsel Osa besonders schön. Als wir auf einem schmalen, kaum erkennbaren Pfad an einer steilen Bergwand bei Dos Brazos entlang wandern, bietet sich ein Panorama von berührender Schönheit, das mit Worten kaum zu beschreiben ist… doch seht selbst:
Am Vortag dieser Fotografie hat es stundenlang geregnet und die Pflanzen des Waldes haben sich von den Strapazen der Trockenzeit erholt. Was an diesem Foto auf den zweiten Blick beeindruckt, sind jedoch nicht die Bäume an sich, sondern es ist die üppige Pflanzendecke, die nicht nur zwischen, sondern vor allem AUF den Bäumen wuchert. Fast kein Baum des Regenwaldes, der nicht selbst Heimat und Wuchsunterlage für weiteres Grünzeug wäre. Epiphyten nennt man solche Aufsitzerpflanzen. Laut Begriffsherkunft (Epi ist Altgriechisch für „auf“, phyton heißt „Pflanze“) eine klare Sache, bei näherer Betrachtung aber gar nicht so unkompliziert wie man glauben sollte: Da gibt es zuerst einmal die Holoepiphyten, die echten Epiphyten. Diese zeichnen sich dadurch aus, dass sie ihr ganzes Leben auf einer anderen Pflanze, meist einem Baum, verbringen.
Ein Leben als Trittbrettfahrer
Solch ein Leben als echter Epiphyt bringt eine Menge Vorteile, aber auch einige Herausforderungen mit sich. Auf der positiven Seite stehen ein viel leichterer Zugang zum Licht: Warum sich – wie die Bäume – einem Wachstumswettlauf um die Sonnenstrahlen liefern, wenn man auch einfach schummeln und auf einem hohen Baum, der das Rennen bereits gemacht hat, wachsen kann? Die Nachteile wiederum sind ein schwererer Zugang zu Nährstoffen und Wasser. Einige Aufsitzerpflanzen lösen das Nährstoffproblem durch extreme Sparsamkeit, wie viele Tillandsien. Andere können mit besonders robusten Mantelblätter totes Laub und andere organische Stoffe einfangen und sich somit ihren eigenen Blumentopf schaffen. Viele Epiphyten, wie z.B. die Bromelien, haben einen kelchförmigen Wuchs und sammeln auf diese Weise Regenwasser. Einige davon leben sogar in Symbiose mit Fröschen: Während die Frösche in den kleinen Bromelientümpeln viele Meter über dem Waldboden ihre Kaulquappen in relativer Sicherheit großziehen können, profitieren die Bromelien von den Ausscheidungen ihrer Bewohner und kommen so zu wertvollen Nährstoffen. Aufgrund der Abhängigkeit von häufigen Regenfällen oder zumindest von sehr hoher Luftfeuchtigkeit finden sich Epiphyten vor allem in tropischen Gefilden.
Holoepiphyten und Hemiepiphyten
Neben den genannten Holoephiphyten, und nun wird es interessant für uns, gibt es auch noch die Hemiepiphyten. Das sind Pflanzen, die nur ein Teil ihres Lebens komplett unabhängig vom Boden leben. Ein Teil der Hemiepiphyten beginnt als normale Bodenpflanze und rankt sich dann als Kletterpflanze einen Baum hinauf. Ist das Wasser- und Nährstoffangebot dort oben ausreichend, kappt die Pflanze die Verbindungen zum Erdreich ganz und wandert mit der Zeit komplett nach oben. Der allseits beliebte Zimmerphilodendron ist dafür ein gutes Beispiel.
Andere Pflanzen praktizieren das umgekehrt: Sie keimen oben im Geäst, wachsen dort fest und bilden dann Luftwurzeln, die sie nach unten hängen lassen, bis sie irgendwann den Boden erreichen. So ein Kandidat ist auch unser Baummörder. Oder besser: Baummörderin, denn im Deutschen ist die (dramatische Musik) Würgefeige weiblich konnotiert (sorry, girls). Nun habe ich die Katze (oder besser: die Feige) aus dem Sack gelassen. Aber wie kann harmloses Obst Bäume killen? Nun, zuerst einmal muss man sich klarmachen, dass die Feigen einen gigantisch großen Stamm innerhalb des Pflanzenreichs darstellen. Alleine die Gattung Ficus beinhaltet nahezu 750-1000 Arten, je nachdem, welcher Botaniker gerade Recht behält. Von diesen wiederum sind nur ein kleinerer Teil echte Würgefeigen. Wie kommt es aber nun zur Baumstrangulierung? Schuld ist natürlich, wie immer, die Evolution, jener nur scheinbar geregelte Anpassungsprozess, welcher den Würgefeigen zu einer genialen Erfolgsstrategie verholfen hat.
Vom Samen zum Hochstapler
Feigenfrüchte haben den unschlagbaren Vorteil, dass sie lecker sind. Das finden nicht nur wir Menschen, sondern auch die Vögel, die Feigenbäume in Scharen dinierenderweise frequentieren. Die Samen der Feige sind für den Vogel jedoch unverdaulich und werden mit dem Kot ausgeschieden, und zwar so ziemlich überall, meist von oben nach unten auf das Blätterdach des Waldes. Die schleimige Hülle eines Feigensamens sorgt für gute Haftung auf der Baumrinde, er bleibt einfach kleben. Stimmen Licht und Regen, kann der Feigensamen auf der Rinde „seines“ Baumes, der nun ein Wirtsbaum geworden ist, keimen und die Feigenpflanze wächst. Und wie sie wächst! Feigen wachsen unglaublich schnell und neigen dazu, sich in etliche Ranken aufzugabeln und den Wirtsbaum zu umschließen. Außerdem wächst sie in beide Richtungen: Nach oben bildet die Feige Halteranken und belaubte Zweige, nach unten bildet sie Luftwurzeln. Diese Luftwurzeln sehen sehr beeindruckend aus und können zu regelrechten Vorhängen ausarten, die vom Wirtsbaum herunterhängen. Haben die ersten Luftwurzeln den Boden erreicht, ist das Schicksal des Wirtsbaumes endgültig besiegelt, denn durch die zusätzliche Wasser- und Nährstoffversorgung von unten kennt das Wachstum der Würgefeige kein Halten mehr. Die Würgefeige ist also ein Hemiepiphyt und geht irgendwann vom ast- zum bodenbasierten Leben über.
Das Wechselbalg unter den Bäumen
Der Tod für den Wirtsbaum kommt langsam und schleichend. Die Würgefeige verzweigt sich immer weiter, bildet Ranken über Ranken und immer neue Luftwurzeln. Die Pflanze bildet ein Geflecht, das in groben Zügen den Konturen des Wirtsbaumes folgt und dabei durch Verholzung selbst immer stabiler wird. Irgendwann hat sie den Stamm ihres Gastgebers derart eingesponnen, dass von diesem kaum noch etwas sichtbar ist. Der Druck, den die Feige nach innen ausübt und auch die immer stärker werdende Konkurrenz um das Licht sorgen dafür, dass der Wirtsbaum irgendwann abstirbt. Zuerst dient sein toter Stamm noch eine zeit lang als Stütze, dann jedoch verrottet er und dient dem mächtigen Feigenbaum, der inzwischen seinen Platz eingenommen hat, durch seine Kompostierung als Nährstofflieferant.
In Costa Rica gibt es vornehmlich zwei Spezies von Würgefeigen (die Ticos sagen „Matapalo“ dazu und unterscheiden sie nicht, denn die Früchte dieser beiden Feigenarten sind für den Menschen nicht interessant): Ficus aurea und die etwas kleinere Ficus citrifolia.
Hat man sich für diesen faszinierenden Pflanzen etwas sensibilisiert und weiß, wie man Feigenbäume im generellen erkennt, ist es nicht schwer, Würgefeigen zu erkennen. Bei unserer Wanderung im Regenwald von Dos Brazos kommen wir an vielen vorbei und können sie in den unterschiedlichsten Stadien des oben beschriebenen Prozesses bewundern. Oft sieht man bescheidene Jungfeigenbäume wie Bonsais an den Stämmen viel größerer Urwaldriesen ranken, hin und wieder sieht man regelrechte Wälder aus Luftwurzeln. Und unvermutet taucht sie -als drohender Riese im Dickicht- auf, die Bestie, und wir stehen in ihrem Schatten.
Würgefeigen, bei denen der Eroberungsprozess abgeschlossen ist und die ihren Wirtsbaum komplett ersetzt haben, bilden oft einen Ehrfurcht gebietenden und auch ein wenig beunruhigenden Anblick:
Es sind gewaltige Bäume von bis zu 25 Metern Höhe mit sehr breiten Stämmen. Ihre Oberfläche wirkt chaotisch, sie ist über und über mit in sich verdrehten Ranken bedeckt. Die Wurzeln dieser Bäume, ein Konvolut aus ehemaligen Luftwurzeln, neuen Keimlingen und stabilisierenden Brettstrukturen, winden sich wie ganze Oktopus-Armeen über den Waldboden und prägen im Umkreis vieler Quadratmeter den Waldboden. Da der ehemalige Wirtsbaum oft ganz zerfallen ist und Lücken hinterlassen hat, ist die Würgefeige meist hohl. Zwischen ihren gewaltigen Wurzeln tun sich immer wieder bizarre Höhlen und Durchgänge auf. Ein Baum wie von einem anderen Planeten. Wenn es eine Pflanze gibt, die den belesenen Reisenden an den Cthulhu-Mythos von H. P. Lovecraft denken lässt, dann ist es die Würgefeige.
Wir stehen immer wieder gebannt und fasziniert vor diesen unwahrscheinlichen Gewächsen und Birte muss mir mehr als einmal als Größenreferenz bei meinen Fotos dienen.
Aus einer Würgefeige wird ein Haus
Eine andere und ziemlich spektakuläre Begegnung mit einer Würgefeige haben wir im Örtchen Sierpe im Norden von Osa. Dort hat sich eine Feigenpflanze auf dem Dach einer Blechhütte, die kurioserweise auch noch das ehemalige Dorfgefängis ist, eingenistet und versucht ihren teuflischen Würgefeigenplan durchzuziehen. Nun ist Stahlblech aber um einiges widerstandsfähiger als Holz und der Feige gelang es lediglich, die Hütte fast komplett zu umwuchern. Diese steht nämlich noch und kann nach wie vor betreten werden.
Das Ergebnis ist ein Baumwurzelhaus mit Blätterkrone, wie es sich ein Set-Designer der Hobbit-Verfilmungen nicht besser hätte ausdenken können.
Wenn ihr also das nächste Mal im Supermarkt steht und in eine Feige beißt oder dem kleinen Zier-Ficus in der Zahnartzpraxis beim Dahinvegitieren zuschaut, dann denkt an gewaltige Tentakelwurzeln und erschauert!